Die Auswanderinnen (German Edition)
schon alles erzählt. Alles, bis auf ein paar verschwommene Einzelheiten, die zu schwer zu beschreiben waren. „Nicht viel. Ich hab’s doch schon gesagt.“
„Hat er, oder hat er nicht?“, fragte Jo Ann mit unverminderter Härte.
„Nun ja, vielleicht. Also, nein, ich glaube nicht. Er hat mich bedrängt, aber ich bin abgehauen. Es ging außerdem alles so schnell! Ein Handgemenge, so wild war es nicht ...“
„Hat er, oder hat er nicht?“
„Vielleicht!“
„Isabella“, insistierte Eva. „Es war eindeutig. Wir haben dich versorgt, als du zurückgekommen bist.“
Jo Ann musterte sie wie eine Kriminelle. „Sag uns die Wahrheit, Isabella!“
„Ach, lasst mich doch in Ruhe! Wenn du es unbedingt wissen und dich quälen willst, ja, er hat. Es ging ganz schnell, und es war nicht wichtig. Es bringt doch nichts, darüber zu sprechen.“
„Du erinnerst dich also daran, dass er dich vergewaltigt hat?“
Isabella wurde wütend. „Ja, zum Teufel noch mal! Können wir das Thema damit beenden?“
„Nein, ich will wissen, was genau er getan hat. Beschreib es mir.“
„Bist du verrückt geworden?“
Jo Ann sah sie herausfordernd an. „Du kannst es mir nicht beschreiben! Weil du es nämlich gar nicht weißt!“
„Natürlich weiß ich es, möchte es aber nicht beschreiben. Du warst schließlich seine Frau und es würde dir noch heute wehtun, wenn du dir solche Details anhören müsstest. Ich will nicht darüber sprechen. Ich weigere mich, versteht ihr? Ich mache dieses Spiel nicht mehr mit. Es genügt ja wohl vollkommen, wenn ich es euch hiermit bestätige.“ Isabellas Stimme war immer leiser geworden, während sie gleichzeitig an Schärfe zugenommen hatte. Sie begann wieder die Boote zu zählen. Zweiundzwanzig. Nein, dreiundzwanzig... Man musste sich konzentrieren, um den Überblick zu behalten. Wie leicht konnte man dabei doch ein Boot übersehen.
„Du erinnerst dich offenbar wirklich an nichts“, sagte Jo Ann. „Aber das werfe ich dir nicht vor, ganz im Gegenteil. Du hast mich überzeugt, dass du keine Schuld hast.“
Isabellas Ärger verflog so schnell wie er gekommen war. „Das musst du mir jetzt aber erklären. Das verstehe ich nicht.“
„Du hast mehrmals gesagt, dass es ganz schnell ging“, antwortete Jo Ann. Isabella blickte sie fragend an. „Gerade eben noch, vor ein paar Minuten, kannst du dich erinnern?“
Isabella nickte. „Klar, ging es schnell. Das ist es ja – es war so schnell vorbei, dass es nichts zu beschreiben gibt.“
„Nein Isabella, das kann nicht sein. Denn du warst den ganzen Nachmittag über bei der Mine! Du bist nach deinen eigenen Worten mittags dort angekommen, bist aber erst abends bei uns im Haus eingetroffen. Wenn du dich noch an alles erinnern könntest, hättest du uns auch mehr erzählt. Dass ihr euch unterhalten habt, dass du in der Mine warst, oder spazieren. Dass du auf Kurt warten musstest und dir langweilig war. Irgendetwas. Aber du hast erzählt, dass du mittags, in der größten Hitze, bei der Mine angekommen bist, nach ihm gerufen hast, er über dich hergefallen ist, alles ganz schnell ging, und du danach abgehauen bist.“
Isabella starrte sie nur an und zupfte mit verstärkter Geschwindigkeit an ihrer Lippe.
„Dir fehlen ein paar Stunden, Isabella! Du hast keine Ahnung, was wirklich geschehen ist!“
Kapitel 46
Sydney, damals
Der Sommer war zu seiner Höchstform aufgelaufen, es war Ende Januar, heiß und schwül. Die Luft in ihrer Wohnung war abgestanden, drückend und roch so schal, dass Isabella, noch ehe sie ihre Handtasche abstellte, als Erstes alle Fenster aufriss und auf eine leichte Brise vom Hafen hoffte. Erst dann ließ sie den Gurt ihrer Aktenmappe von der Schulter gleiten und das schwere Lederteil auf den Parkettboden fallen. Schnell schälte sie sich aus ihrer formellen Bürokleidung, schleuderte ihre Schuhe in hohem Bogen von sich und schlüpfte in das lose Sommerkleid aus Baumwolle, das sie gestern Abend achtlos über die Stuhllehne geworfen und dann dort vergessen hatte.
Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Es war höchste Zeit, endlich einmal wieder bei Eva anzurufen. Entschlossen ging sie zum Telefon, wählte Evas Nummer, legte aber nach dem ersten Klingeln wieder auf. Was sollte sie nur zu ihr sagen? Wie ihr erklären, warum sie sich seit Weihnachten nicht mehr bei ihr gemeldet hatte? War es wirklich schon so lange her? Seit den vergangenen Feiertagen hatte sie sich verstärkt in ihre Aufgaben im Büro
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