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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Herausziehen des Bettes aus seinem Standort an der Wand und das sehr anstrengende Hinausschieben auf den Gang war in den meisten Fällen doch unterlassen worden. Die Schwestern hatten einen geschulten Blick für die
Todeskandidaten
, sie sahen schon lange, bevor der Betroffene selbst es fühlte, daß es mit dem einen oder anderen in der kürzesten Zeit zu Ende gehen würde. Sie waren seit Jahren oder schon seit Jahrzehnten dort stationiert gewesen, wo so viele Hunderte und Tausende Menschenleben zu Ende gegangen sind, und sie verrichteten naturgemäß ihre Arbeit mit der größten Geschicklichkeit, mit dem größten Gleichmut. Ich selbst war nicht nur infolge der totalen Überfüllung des Krankenhauses in das Sterbezimmer gekommen, in ein Bett, in dem, wie ich später in Erfahrung gebracht habe, erst wenige Stunden vorher ein Mann gestorben war, ich war dort sicher auch auf Veranlassung des nachtdiensthabenden Arztes eingewiesen, welcher mir wahrscheinlich keine Chance mehr gegeben hatte. Mein Zustand muß ihm bedenklicher gewesen sein als die Roheit, mich, den Achtzehnjährigen, in das nur von Siebzigjährigen und von Achtzigjährigen belegte Sterbezimmer hineinlegen zu lassen. Meine seit frühester Kindheit an mir praktizierte Abhärtung und meine immer auch angewandte Schmerz
verweigerung
hatten sich, was diesen lebensbedrohenden Krankheitsrückfall betraf, nicht nur als schädlich und im Grunde genommen als tatsächlich fahrlässig und letzten Endes nicht nur lebensgefährlich, sondern als lebensbedrohend erwiesen und hätten beinahe, wie gesagt werden kann, um ein Haar, mein Leben ausgelöscht. Denn Tatsache ist, daß ich den ganzen Herbst und den halben Winter die Krankheit, wahrscheinlich eine leichte Lungenentzündung, unterdrückt, schließlich, um nicht in den Krankenstand gehen und zuhause bleiben zu müssen, ignoriert hatte und daß diese von mir unterdrückte und ignorierte Krankheit naturgemäß gerade wieder zu dem Zeitpunkt ausgebrochen ist, ausbrechen hatte müssen, der mit dem Auftreten der Krankheit meines Großvaters zusammenfiel. Ich erinnere mich, daß ich tagelang, vielleicht wochenlang, ein höheres, schließlich sogar hohes Fieber vor den Meinigen und vor dem Podlaha verheimlichen hatte können. Ich wollte in meinem so gut funktionierenden Lebensablauf durch nichts gestört sein. Ich hatte einen Existenzrhythmus gefunden gehabt, der meinen Ansprüchen genügt und der mir tatsächlich entsprochen hatte. Ich hatte mir ein ideales Dreieck geschaffen gehabt, dessen Bezugspunkte, Kaufmannslehre, Musikstudium, Großvater und Familie, meiner Entwicklung auf die höchstmögliche Weise nützlich gewesen waren. Ich durfte mir keine Störung, also auch keine Krankheit leisten. Meine Rechnung war aber nicht aufgegangen, und im nachhinein ist es klar, daß eine solche Rechnung überhaupt nicht aufgehen kann. Kaum hatte ich, nachdem ich das Gymnasium verlassen und mein Glück in dem Kaufmannsladen des Podlaha gesucht hatte, eine mich tatsächlich befriedigende Existenzmöglichkeit gefunden, die mich kühn und mutig zugleich gegen alle Widerstände mein Leben in die Hand (und vor allem auch in den Kopf) hatte nehmen lassen, war ich auch schon wieder aus diesem Ideal herausgerissen. Es ist, denke ich, durchaus möglich, daß ich selbst nicht mehr erkrankt wäre, hätte nicht mein Großvater das Krankenhaus aufsuchen müssen. Aber das ist ein absurder Gedanke, wenn auch ein natürlicher, gerechtfertigter. Es ist klar, daß auch die Jahreszeit den Ausschlag gegeben hatte, der Jahresanfang ist die gefährlichste aller Jahreszeiten, und der Jänner ist von den meisten Menschen nur auf die schwierigste Weise zu überbrücken, der ältere Mensch, geschweige denn der alte, wird vom Jahresanfang
gebrochen
. Lange Zeit niedergehaltene Krankheiten kommen zum Jahresanfang, aber mit größter Wahrscheinlichkeit immer gegen die Jännermitte zum Ausbruch. Die Körperkonstitution, die der ungeheuren Belastung einer oder mehrerer Krankheiten den ganzen Herbst und den halben Winter gewachsen gewesen war, bricht Mitte Jänner zusammen. Zu diesem Zeitpunkt sind, das ist nie anders gewesen, die Krankenhäuser überfüllt und die Ärzte überfordert, und das Totengeschäft ist auf dem Höhepunkt. Ich hatte es ganz einfach nicht ertragen können, daß mein Großvater in das Krankenhaus gehen mußte. Und hatte ich so viele Monate vorher alles nur Mögliche zur Unterdrükkung meiner eigenen Krankheit getan, jetzt, nachdem mein

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