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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Möglichkeitsfetzen von Erinnerung zusammengesetzt sind. Hier sind Bruchstücke mitgeteilt, aus welchen sich, wenn der Leser gewillt ist, ohne Weiteres ein Ganzes zusammensetzen läßt. Nicht mehr. Bruchstücke meiner Kindheit und Jugend, nicht mehr. Mein Hauptgedanke war gewesen, ob ich jemals wieder meine Gesangsstunden bei meiner Lehrerin in der Pfeifergasse aufnehmen würde können, denn ohne Gesang hatte ich, so glaubte ich, keine Zukunft mehr. Zweimal in der Woche hatte ich denken müssen, jetzt wäre ich in der Gesangsstunde oder jetzt unterrichtete mich der Professor Werner. Ich hatte nicht den Mut, einen Arzt zu fragen, ob meine Krankheit überhaupt meiner Zukunft als Sänger längst ein Ende gemacht habe, mein Großvater war der Überzeugung gewesen, die Krankheit bewirke nur eine vorübergehende, wenn auch monatelange Unterbrechung, ich selbst bezweifelte das, wenn ich daran dachte, in welchem tatsächlichen Zustand ich mich befand, vor allem, wenn ich genau fühlte, in wie große Mitleidenschaft mein Hauptinstrument, mein Brustkorb, gezogen war, ich hatte einen schon beinahe zur Gänze vernichteten und kaum zu den notwendigen Atemzügen befähigten Brustkorb, welcher mir nach wie vor die größten Schwierigkeiten machte, wenn ich mich nur im Bett umdrehte, die gelbgraue Flüssigkeit hatte sich auch nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt und also, wie mein Großvater gesagt hatte,
Spezialbehandlung
immer noch auf beängstigende Weise nach jeder Punktion unwahrscheinlich schnell zwischen Zwerchfell und Lunge gebildet, manchmal hatte ich den Eindruck, es sei überhaupt noch keinerlei Besserung meines Körperzustandes eingetreten, unabhängig davon, wie weit mein Geist und meine Seele schon in Aufwärtsentwicklung gewesen waren, der Körper war hinter ihnen zurückgeblieben, und er hatte pausenlos versucht, Geist und Seele zu sich zurück- und hinunterzuziehen, ich hatte ununterbrochen diesen Eindruck gehabt, aber ich wehrte mich dagegen mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Den Satz meines Großvaters, daß der Geist den Körper bestimmt und nicht umgekehrt, mußte ich mir immer wieder vorsagen, manchmal hatte ich mir diesen Satz halblaut in meinem Bett vorgesagt, ihn stundenlang mechanisch wiederholt, um mich an diesem Satz aufzurichten. Aber bei dem Anblick des Gurkenglases in der Ambulanz waren alle meine Vorsätze und Bemühungen immer wieder zunichte gemacht. Der Transport in die Ambulanz bedeutete den totalen Absturz. Schon bevor ich zur Punktion abgeholt worden war, hatte ich diesen seelischen und geistigen Absturz vorausgesehen und mich davor gefürchtet. Ich war in allem auf Selbsthilfe angewiesen gewesen, unterstützt naturgemäß von der Nähe meines Großvaters, aber dieses System ist jedesmal schon auf dem Weg zur Punktion, schon auf dem langen Gang zunichte gemacht gewesen. Das Gurkenglas hatte mir, indem es sich nach und nach immer wieder bis auf die Hälfte anfüllte, meine tatsächliche Lage ganz deutlich gezeigt. Ich war zwar nicht mehr ohnmächtig geworden bei seinem Anblick, denn ich hatte mich an diesen Anblick längst gewöhnt, aber ich bin nach wie vor in dieser brutalen Prozedur völlig zerstört gewesen. Noch Stunden nach jeder Punktion war ich, unfähig zu der geringsten Bewegung, mit geschlossenen Augen in meinem Bett gelegen, kein Gedanke ist auch nur in Frage gekommen, und die Bilder in meinem Kopf sind in sich zerstört gewesen. Eine in sich vollkommen zertrümmerte Welt hatte ich in diesen Augenblicken anschauen und mich von dieser vollkommen zertrümmerten Welt wehrlos bis in das Zentrum meines Wesens hinein beschädigen lassen müssen. Ich sah mich, aufgewacht aus diesem meinem zerstörten und beinahe gänzlich vernichteten Wesen, dann sehr oft von zuhause oder aus dem Geschäft in der Scherzhauserfeldsiedlung weg in die Stadt laufen mit meinen Notenblättern unter dem Arm, durch das Neutor oder über die Lehener Brücke, je nachdem, die Salzach entlang in die Pfeifergasse zu der Keldorfer und/oder zu ihrem Mann, dem Professor Werner, und also um die Musik wie um meine Zukunft laufen. Aber diese Bilder und die mit diesen Bildern zusammenhängenden Gedanken hatten nur immer wieder einen deprimierten Zustand in mir hergestellt, eine Hoffnungslosigkeit in mir hervorgerufen, aus welcher ich nicht mehr herauskommen würde können, so dachte ich. Alles in Hinblick auf meine Musik und auf meine Zukunft war jetzt aufeinmal nichts mehr als nur Hoffnungslosigkeit und

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