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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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hineingeschoben, aber wahrscheinlich war das Badezimmer besetzt und daher der Geldbriefträger im Sterbezimmer geblieben. Die Visite hatte immer nur einen kurzen Blick auf seinen Körper im Gitterbett geworfen, die Ärzte hatten im Grunde mit ihm (wie mit den meisten anderen in diesem Zimmer) nichts mehr zu tun gehabt, es hatte sie jedesmal, waren sie in das Sterbezimmer hereingekommen, irritiert, so meine Feststellung, daß der Geldbriefträger noch da gewesen war. Durch das Fenster herein war das Tageslicht genau auf seinen Haarschopf und auf sein Gesicht gefallen. Ich war, wenn ich den Kopf und das Gesicht in dem Kopf beobachtete, an das Atmen eines Fisches erinnert. Jahrzehntelang war dieser Mensch auf der Erdoberfläche tagaus, tagein umhergelaufen, ruhelos, wahrscheinlich, so mein Gedanke, wenn ich ihn betrachtete, in guter Stimmung. Ich hatte das Gefühl, daß der Geldbriefträger das gewesen war, was als ein glücklicher Mensch bezeichnet wird. Er hatte ein normales, glückliches Leben geführt, das hatte ich auch an seinen Besuchern ablesen können, die nach und nach bei ihm erschienen waren, wie ich glaube, seine Frau, seine Kinder, seine Verwandtschaft, alles Leute aus dem oberösterreichischen Land. Plötzlich, nachdem dieser angedeutete, den Geldbriefträger betreffende Zustand tagelang angedauert hatte, war ich, mitten in der Nacht, aufgewacht. Der Geldbriefträger, der bis jetzt immer geschwiegen hatte, hatte auf einmal Schreie ausgestoßen und hatte sich urplötzlich aus seiner Verkrümmung herausgerissen und war in einem einzigen Satz und wie ein wildes Tier über das Gitter seines Bettes gesprungen und, wie ein wildes Tier um sich schlagend, an die Tür gestürzt. Dort war er, wie ich, nicht durch meinen Augenschein, denn die Tür hatte ich ja nicht sehen können, sondern durch den Lärm, den der ganze Vorfall verursacht hatte, festgestellt hatte, in den Armen der Nachtschwester tot zusammengebrochen. Den toten Geldbriefträger haben sie nicht mehr in das Gitterbett zurückgelegt, sondern gleich abtransportiert. Manchmal nehmen die Sterbenden in ihren letzten Augenblicken alle ihre Kräfte zusammen, um ihren Tod, der sie schon zu lange durch Nichteintreten gequält hat, gewaltsam herbeizuführen. Der Geldbriefträger ist dafür ein Beispiel. Die Ärzte und überhaupt die sogenannten Mediziner, zu welchen ja nicht nur die Ärzte zu zählen sind, mögen über alles, was hier notiert ist, den Kopf schütteln, aber hier wird auf das Kopfschütteln, gleich auf welcher Seite und mag sie sich als die kompetenteste ansehen, keinerlei Rücksicht genommen. Solche Notizen müssen auch in jedem Falle naturgemäß immer im Hinblick darauf gemacht werden, daß sie angefeindet und/oder verfolgt oder ganz einfach für die eines Verrückten gehalten werden. Den Schreiber hat eine solche Tatsache und eine solche noch so unsinnige Aussicht nicht zu irritieren, und er ist es vor allem gewohnt, daß, was er sagt und was er schreibt und was er bis jetzt schon alles im Laufe seines Lebens und Denkens und Fühlens aufgeschrieben hat, weil er, aus was für einem Grunde auch immer, dazu gezwungen gewesen war, angefeindet und verfolgt und für verrückt erklärt worden ist. Die Meinung, gleich welche, interessiert ihn nicht, wenn es sich für ihn um Tatsachen handelt. Er ist nicht und niemals bereit, anders zu handeln, anders zu denken und zu fühlen als aus sich selbst, wenn er sich naturgemäß auch in jedem Augenblick bewußt ist, daß alles, gleich was, nur Annäherung und nur ein Versuch sein kann. Es sind ihm und also auch dieser Schrift, wie allem und allen Schriften, Mängel, ja Fehler nachzuweisen, niemals jedoch eine Fälschung oder gar eine Verfälschung, denn er hat keinerlei Ursache, sich auch nur
eine
solche Fälschung oder Verfälschung zu gestatten. Im Vertrauen auf sein Gedächtnis und auf seinen Verstand, auf diese zusammen, wie ich glaube, verläßliche Basis gestützt, wird auch dieser Versuch, wird auch diese Annäherung an einen Gegenstand unternommen, welcher tatsächlich einer in dem höchsten Schwierigkeitsgrade ist. Aber er empfindet keinerlei Grund, diesen Versuch, weil er mangelhaft und fehlerhaft ist, aufzugeben. Gerade diese Mängel und Fehler gehören genauso zu dieser Schrift als Versuch und Annäherung wie das in ihr Notierte. Die Vollkommenheit ist für nichts möglich, geschweige denn für Geschriebenes und schon gar nicht für Notizen wie diese, die aus Tausenden und Abertausenden von

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