Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Baumstumpf zwischen zwei Buchen und beobachtete die paarweise spazierengehenden Männerpatienten weiter unten, die immer dann spazierengingen nach Vorschrift, wenn die Frauen auf der Liegehalle zu liegen hatten, die Regel war so, die Männer lagen auf der Liegehalle, wenn die Frauen spazierengingen, die Frauen gingen spazieren, wenn die Männer auf der Liegehalle waren, so verhinderte die Anstaltsleitung, daß Frauen und Männer gemeinsam spazierengingen, auf diese Weise kamen Frauen und Männer nicht zusammen, sie mußten die Vorschriften hintergehen und die fristlose Entlassung riskieren, wollten sie zusammensein. Ich saß auf dem Baumstumpf und beobachtete hinter dieser Beobachtung meine Salzburger Zwischenzeit, die Zeit zwischen Großgmain und Grafenhof, eine Schreckenszeit, eine Zeit der Demütigung und der Trauer: Ich war jenen Wegen durch die Stadt gefolgt, die ich mit meinem Großvater gegangen war, ich war durch jene Gassen gegangen, die mich zu meinen Musikstunden geführt hatten, ich getraute mich, schüchtern und in aller Heimlichkeit, sogar in die Scherzhauserfeldsiedlung, ohne allerdings den Podlaha und sein Geschäft aufzusuchen, ich stand in entsprechendem Abstand vor seiner Lebensmittelhandlung und beobachtete die Kundschaft, ich kannte sie. Ich hätte mich unter keinen Umständen in das Geschäft hineinzugehen getraut, ja ich getraute mich nicht einmal, die mir vertrauten Kunden des Podlaha, die in nur fünfzig oder hundert Metern Entfernung von mir vorbeigingen, anzusprechen, jedesmal, wenn es so ausschaute, als käme es zu einer Begegnung, zu einer Konfrontation, versteckte ich mich, ich war ein Versager, ich hatte versagt, ich hatte mich bei dem lächerlichen Abladen von Erdäpfeln im Schneetreiben verkühlt, war krank geworden, ausgeschieden aus der Scherzhauserfeldsiedlungsgemeinschaft, ausgestoßen worden, vergessen wahrscheinlich. Wie gern hätte ich diese Menschen angesprochen, mich zu erkennen gegeben, aber ich durfte nicht, aus Selbsterhaltungstrieb. So war ich wieder abgezogen, deprimierter, zurückgeworfen in eine verdoppelte Einsamkeit. Überall hatte ich versagt, zuhause, von Anfang an, als Kind, als junger Mensch, in der Schule als Kind, als junger Mensch, in der Lehre, immer und überall, diese Feststellung bedrückte mich, machte den Weg durch die Stadt zu einem Spießrutenlauf, in allen diesen Gassen und Winkeln und unter allen diesen Menschen hatte ich immer wieder versagt, hatte ich scheitern müssen, weil meine Natur so ist, mußte ich mir sagen. Ich war in die Pfeifergasse gegangen, in welcher mich
die Keldorfer, der Werner
, meine Musiklehrer, unterrichtet hatten, und hatte versagt. Ich war in die Hauptschule gegangen und hatte versagt, ich war in das Internat eingetreten und hatte versagt, in das Gymnasium, wo immer, unter Schimpf und Schande davongejagt, gedemütigt, ausgeschieden, hinausgeworfen von allem und jedem, noch heute habe ich diese Empfindungen, wenn ich durch Salzburg gehe, es ist auch heute noch jener entsetzliche Spießrutenlauf, auch noch nach drei Jahrzehnten. Auf dem Baumstumpf sitzend, sah ich mich an alle diese Haustüren anklopfen, und es wurde mir nicht aufgemacht. Ich war immer abgewiesen, niemals angenommen, aufgenommen worden. Meine Forderungen waren niemals akzeptiert worden, meine Ansprüche waren die größenwahnsinnigen, die der junge Mensch immer noch höher ansetzt, so daß sie ganz einfach nicht akzeptiert werden können, die größenwahnsinnigen Ansprüche an das Leben, an die Gesellschaft, an alles. So hatte ich hochmütig, alles fordernd, doch die ganze Zeit immer nur mit eingezogenem Kopf zu existieren gehabt. Wie war das also wirklich, fragte ich, chronologisch?, und packte alles Eingepackte, Festverschnürte wieder aus, nach und nach, jetzt hatte ich ja die notwendige Ruhe, und bis ich alles ausgepackt hatte, den Krieg und seine Folgen, die Krankheit des Großvaters, den Tod des Großvaters, meine Krankheit, die Krankheit der Mutter, die Verzweiflungen aller Meinigen, ihre bedrückenden Lebensumstände, aussichtslosen Existenzen, packte ich wieder alles ein und verschnürte es wieder. Aber ich konnte dieses festverschnürte Paket nicht liegenlassen, ich mußte es wieder mitnehmen. Ich trage es heute noch, und manchmal mache ich es auf und packe es aus, um es wieder einzupacken und zuzuschnüren. Ich bin dann nicht gescheiter. Ich werde es nie sein, das ist das Bedrückende. Und wenn ich das Paket noch dazu vor Zeugen auspacke, wie jetzt,
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