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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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indem ich diese rohen und brutalen und sehr oft auch sentimentalen und banalen Sätze, unbekümmert freilich wie bei keinen anderen Sätzen, auspacke, habe ich keine Scham, nicht die geringste. Hätte ich eine noch so geringe Scham, ich könnte ja überhaupt nicht schreiben, nur der Schamlose schreibt, nur der Schamlose ist befähigt, Sätze anzupacken und auszupacken und ganz einfach hinzuwerfen, nur der Schamloseste ist authentisch. Aber auch das ist natürlich so wie alles ein Trugschluß. Ich saß auf dem Baumstumpf und starrte meine Existenz an, die ich so innig lieben, gleichzeitig so entsetzlich hassen mußte. In dieser Zwischenzeit hatte ich auch meine Kaufmannsgehilfenprüfung gemacht, in der sogenannten Kammer der Gewerblichen Wirtschaft, ich hatte meine Lehrzeit zu einem ordentlichen Abschluß bringen wollen, ich durfte zu dieser Prüfung antreten, und ich hatte sie bestanden. Ich hatte zweiundsiebzig Teesorten, die vor mir ausgebreitet waren, zu bestimmen gehabt und mich nicht geirrt, ich hatte auf die Frage, ob ich in eine G RAF -Flasche Maggi einfüllen darf, wenn ein Kunde das von mir verlangt,
nein
gesagt, das war die richtige Antwort gewesen, Flaschen mit Markenzeichen dürfen nur mit dem entsprechenden Markeninhalt gefüllt werden, das hatte ich gelernt, das verhalf mir zu einem positiven Abschluß dieser Prüfung. Aber was hatte ich jetzt von dem sogenannten Kaufmannsgehilfenbrief? Tatsache war, daß ich mit meiner kranken Lunge im Lebensmittelhandel gar nicht beschäftigt werden durfte, ebensowenig hatte ich mit derselben kranken Lunge singen können. Ich war dazu verurteilt, unter Zuhilfenahme einer kleinen Fürsorgerente den Meinigen in der Radetzkystraße zur Last zu fallen. Ich war zum Hinundhergehen, zum Herumstreunen verurteilt, ausgeschieden ganz einfach von allem. Meine einzige Hoffnung bestand darin, auf die Fahrkarte nach Grafenhof zu warten, in die Anstalt, hieß es, die als die abschreckendste bekannt und gefürchtet war. Ich konnte den Augenblick, den Zug nach Grafenhof zu besteigen, in Wahrheit gar nicht erwarten, und hatte ich die Fahrkarte nach Grafenhof in der Hand, mußte ich glücklich sein, ob ich wollte oder nicht, ich war glücklich. Ich war glücklich gewesen, in die Schreckensanstalt fahren zu dürfen, das ist die Wahrheit, so unverständlich diese Wahrheit ist. Einmal in Grafenhof, das vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie gesagt wird, wie ich dachte, werde ich Zeit und Luft haben, über das Weitere nachzudenken, in Salzburg und unter den Meinigen hatte ich keine Zeit und keine Luft. Ich war ja immer nahe daran zu ersticken, solange ich in Salzburg gewesen war, und ich hatte nur einen einzigen Gedanken in dieser Zeit, nämlich den Selbstmordgedanken; aber wirklich Selbstmord zu machen, dazu war ich zu feige und auch viel zu neugierig auf alles, von einer schamlosen Neugierigkeit bin ich zeitlebens gewesen, das hat immer wieder meinen Selbstmord verhindert, ich hätte mich tausendemale umgebracht, wenn ich nicht immer von meiner schamlosen Neugierde zurückgehalten worden wäre auf der Erdoberfläche. Nichts habe ich zeitlebens mehr bewundert als die Selbstmörder. Alles haben sie mir voraus, alles, habe ich immer gedacht, ich bin nichtswürdig und hänge am Leben, und ist es noch so scheußlich und minderwertig, noch so abstoßend und gemein, noch so billig und niederträchtig. Anstatt mich umzubringen, gehe ich alle widerwärtigen Kompromisse ein, mache ich mich allem und jedem gemein und flüchte in die Charakterlosigkeit wie in einen stinkenden, aber wärmenden Pelz, in das erbärmliche Überleben! Ich verachtete mich, weil ich weiterlebte. Auf dem Baumstumpf sitzend, sah ich die absolute Absurdität meiner Existenz. Auf den Friedhof zu meinem Großvater gehend und wieder zurück, sah ich mich, ein Erdhügel war von unser beider Reiseplänen geblieben, ein leeres Zimmer am Ende der Wohnung, unangetastet hingen die Kleider meines Großvaters noch immer an der Tür und im Kasten, auf seinem Schreibtisch waren noch immer die Zettel mit seinen Notizen, seine schriftstellerische Arbeit betreffend, aber auch ganz banale Pflichten, wie
Hemdknöpfe annähen nicht vergessen! Schuhreparatur! Kastentür streichen! Herta
(seine Tochter, meine Mutter)
wegen Brennholz ermahnen!
Was bedeuteten diese Zettel jetzt? Sollte
ich
mich jetzt an den Schreibtisch setzen? Dazu hatte ich kein Recht,
noch
kein Recht, hatte ich gedacht. Ich hatte auch kein Recht oder
noch
kein Recht, die

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