Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Bücher aus dem Regal herauszunehmen, Goethe, Band vier, beispielsweise, Shakespeare, King Lear, Dauthendey, Gedichte, Christian Wagner, Gedichte, Hölderlin, Gedichte, Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Ich getraute mich nichts in dem Zimmer anzurühren. Als ob die Möglichkeit nicht auszuschließen wäre, daß der Eigentümer und Besitzer dieses Zimmers und seines ganz für ihn bestimmten Inhalts jeden Augenblick eintreten und mich zur Rede stellen könnte. Hier hatte der erfolglose, der verkannte Schriftsteller sich jeden Tag um drei Uhr früh hingesetzt und gearbeitet.
Sinnlos
, wie ich jetzt einsehen mußte, wie er selbst eingesehen hatte, er hatte es nicht gesagt, jedenfalls nicht mit Worten, aber er war in jedem Augenblick dieser Meinung gewesen, unter dieser Sinnlosigkeit hatte er seine Disziplin bis zur äußersten Disziplin getrieben, sich ein System geschaffen, das sein ureigenes gewesen war, immer mehr geworden ist, ich erkenne mein eigenes in diesem System. Gegen die Sinnlosigkeit aufstehen und anfangen, arbeiten und denken in nichts als in Sinnlosigkeit. Durfte ich seinen Gedanken jetzt weiterdenken? Durfte ich sein System übernehmen, zu dem meinigen machen? Aber es war ja von Anfang an auch mein System gewesen. Aufwachen, anfangen bis zur Erschöpfung, bis die Augen nichts mehr sehen können, nichts mehr sehen wollen, schlußmachen, das Licht ausdrehen, sich den Alpträumen ausliefern, sich ihnen hingeben wie einer Feierlichkeit ohnegleichen. Und am Morgen wieder das gleiche, mit der größten Genauigkeit, mit der größten Eindringlichkeit,
die vorgespiegelte Bedeutung
. Auf dem Baumstumpf sitzend, das Heukareck vor mir, betrachtete ich die Infamie einer Welt, aus der ich mich mit allen möglichen Vorbehalten gelöst, herausgeschwungen hatte, um sie aus meinem Winkel und durch mein Objektiv sehen zu können. Diese Welt sah genauso aus, wie sie mir mein Großvater beschrieben hatte, da ich noch ungläubig und nicht gewillt gewesen war, alles, was er mir beschrieb, anzunehmen, ich hatte ihm zugehört, aber ich hatte mich geweigert, ihm zu folgen, jedenfalls die ersten Jahre, später hatte ich selbst die Beweise für die Richtigkeit seiner Angaben: die Welt ist zum größten Teil ekelerregend, in eine Kloake schauen wir hinein, wenn wir in sie hineinschauen. Oder nicht? Ich hatte jetzt die Möglichkeit, die Angaben meines Großvaters zu überprüfen, ich war besessen davon, die Beweise für die Richtigkeit seiner Angaben in meinen Kopf zu bekommen, und ich eilte und ich jagte diesen Beweisen nach, überallhin, in alle Winkel meiner Jugendstadt und ihrer näheren Umgebung. Mein Großvater hatte die Welt richtig gesehen: als Kloake, in welcher die schönsten und die kompliziertesten Formen sich entwickelten, wenn man lange genug hineinschaut, wenn sich das Auge dieser mikroskopischen Ausdauer ausliefert. Die Kloake hatte die Naturschönheiten parat für den scharfen, für den revolutionären Blick. Aber es blieb eine Kloake. Und wer lange hineinschaut, Jahrzehnte hineinschaut, ermüdet und stirbt und/oder stürzt sich kopfüber hinein. Die Natur war die von ihm so klassifizierte grausame, die Menschen waren die von ihm so beschriebenen verzweifelten und gemeinen. Immer war ich auf der Suche nach Gegenbeweisen seiner Ansichten, in diesem Punkte, an dieser Ecke werde ich ihn desavouieren, hatte ich gedacht, aber nein, ich hatte immer nur die Bestätigung im Kopf. Er deutete es an, ich deckte es auf und bestätigte es. Auf dem Baumstumpf sitzend, praktizierte ich diese Beweisführung in der Erinnerung jetzt zur Entspannung, ich versuchte meine Recherchen zu wiederholen, sie mir abermals zu vergegenwärtigen, in dieser Art von Versuchen hatte ich schon Meisterschaft erlangt, ich hatte die Möglichkeit, die Erinnerung, wo ich wollte, abzurufen und sie wieder und wieder zu überprüfen. Meine Geschichte war inzwischen schon eine Weltgeschichte mit Tausenden, Abertausenden, wenn nicht Millionen von Daten, aufgespeichert in meinem Hirn, jederzeit abrufbar. Mein Großvater hatte mir die Wahrheit zur Kenntnis gebracht, nicht nur seine Wahrheit, auch meine Wahrheit, die Wahrheit überhaupt und dazu auch gleich die totalen Irrtümer dieser Wahrheiten. Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit, so brachte ich mich fort, so hatte ich die Möglichkeit weiterzugehen, so mußte ich meine Pläne nicht abbrechen. Dieser Mechanismus hält
Weitere Kostenlose Bücher