Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Blick auf das brennende Elternhaus hatte er nicht nur die Heimat, sondern überhaupt den Heimatbegriff (für sich) ausgelöscht. Er habe seine Tat nie bereut. Er ist nur dreiundvierzig Jahre alt geworden, und ich weiß von ihm beinahe nichts als diese Geschichte, ich habe ihn nie gesehen. Meine Mutter ist in Basel geboren, wo mein Großvater an der Universität inskribiert gewesen war. Meine Großmutter war dem damals in allem sozialistisch gesinnten Studenten, nachdem sie ihren Mann und ihre Kinder verlassen hatte, von Salzburg aus in die Schweiz gefolgt, sie hatten sich zeitlebens nicht mehr getrennt und erst nach vierzig Jahren des Zusammenlebens und -existierens geheiratet. Meine Mutter war noch nicht ein Jahr alt, da waren meine Großeltern mit dem kleinen Kind schon in Deutschland unterwegs, von Ort zu Ort, der sozialistischen Idee zuliebe. Ansprachen, Aufmärsche war die Parole (auch meines Großvaters) gewesen. Jeder von den Meinigen ist an einem anderen Ort auf die Welt gekommen, das beweist wie nichts sonst ihre Unruhe, die zeitlebens für uns so notwendig wie charakteristisch gewesen ist. Und als sie endlich Ruhe haben wollten und diese Ruhe schon sicher gewesen, der Rückzug in die Ruhe gelungen, diese Ruhe in Besitz genommen war, kamen Krankheit und Tod. Ihr Selbstbetrug hatte jetzt seine Rache. So vieles hatte ich der Mutter sagen wollen, so Entscheidendes sie fragen wollen, jetzt war es zu spät. Sie wird nicht mehr die für meine Fragen Empfängliche sein, jetzt hat sie kein Ohr mehr für mich. Wir heben die Fragen auf, weil wir selbst sie nur fürchten, und aufeinmal ist es zu spät dafür. Wir wollen den Befragten in Ruhe lassen, ihn nicht
zutiefst
verletzen, also fragen wir nicht, weil wir uns selbst in Ruhe lassen wollen und nicht
zutiefst
verletzen. Wir schieben die entscheidenden Fragen hinaus, indem wir ununterbrochen nutzlose und gemeine, lächerliche Fragen stellen, und wenn wir die entscheidenden Fragen stellen, ist es zu spät. Lebenslänglich schieben wir die großen Fragen hinaus, bis sie zu einem Fragengebirge geworden sind und uns verdüstern. Aber dann ist es zu spät. Wir sollten den Mut haben (gegen die, die wir zu fragen haben, wie gegen uns selbst), sie mit Fragen zu quälen, rücksichtslos, unerbittlich, sie nicht schonen, sie nicht mit Schonung
betrügen
. Wir bereuen alles, das wir nicht gefragt haben, wenn der zu Fragende kein Ohr für diese Fragen mehr hat, schon tot ist. Aber selbst wenn wir alle Fragen gestellt hätten, hätten wir eine einzige Antwort? Wir akzeptieren die Antwort nicht, keine Antwort, das können wir nicht, das dürfen wir nicht, so ist unsere Gefühlsund Geistesverfassung, so ist unser lächerliches System, so ist unsere Existenz, unser Alptraum. Ich sah, was auf mich zukommen würde, den Tod der Mutter, schon als Selbstverständlichkeit voraus, ich beobachtete ja schon die Folgen ihres Todes mit meinen Augen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, ich stattete mir das Begräbnis schon aus, ich hörte, was gesagt wird, was verschwiegen, ich hatte alles vor Augen, aber ich wollte es doch nicht wahrhaben. Die Familie mit ihrer Nachkriegsrücksichtslosigkeit hat sie erdrückt, dachte ich, der Tod ihres Vaters hat den Krankheitsprozeß beschleunigt. Noch kamen Grüße von ihr, immer mehr Lebensregeln, behutsame, unaufdringliche Vorschläge für die Zeit nachher. Sie habe beschlossen, meinen Geschwistern, also meinem Bruder und meiner Schwester, gerade sieben und neun Jahre alt, ihr Ende zu entziehen, sie sollten nicht Zeuge sein, die Kinder sollten die Mutter nicht sterben sehen, die Schwester wurde nach Spanien, der Bruder nach Italien geschickt.
Sie
bereitete ihren Tod vor,
sie
traf alle Entscheidungen selbst, sie hatte sich gegen alle Geschmacklosigkeiten im Zusammenhang mit Sterbenskrankheit gewehrt, kein Mitleid geduldet. Mit dem ihres Vaters sei auch ihr Leben zu Ende, sie soll das völlig ruhig gesagt haben. Ich dachte, ich sehe sie nicht mehr, ich liege da mit meinem Pneumoperitoneum und sehe sie nicht mehr, aber ich hatte noch die Gelegenheit, ich wurde aus dem Spital entlassen, ich durfte nachhause. Zwei Tage darauf sollte ich wieder nach Grafenhof fahren, den Überweisungsschein hatte ich schon in der Tasche. Ich saß am Bett der Mutter, aber es war kein Gespräch mehr zustande gekommen, ihr Verstand war klar, aber alles Gesagte erschien mir lächerlich. Ich hatte kaum Zeit, den amerikanischen Seesack mit meinen Habseligkeiten anzufüllen. Vormund
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