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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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und Großmutter waren in ihrer Erschöpfung gefangen. Obwohl meine Mutter noch lebte,
da
war, war in der Wohnung schon
die Leere nach ihr
gewesen, wir alle fühlten das. Wir saßen auf den Sesseln in der Küche und horchten an der offenen Tür, aber die Todkranke verhielt sich still. In Grafenhof war ich nicht mehr in das Zwölferzimmer, sondern in eine der sogenannten Loggien gekommen, im Hochparterre, zu meinem Erstaunen war mein Mitpatient der sogenannte verkommene Doktor, der Doktor der Rechte, den ich schon erwähnt habe. Sein bedenklicher Zustand hatte ihn auf die Loggia gebracht, in das von einer riesigen Tanne abgedunkelte Zimmer. Auch ich war nur auf die Loggia gekommen, weil mein Zustand als ein nicht geheurer eingestuft worden war. Die Krankheit hatte meinen Körper inzwischen noch mehr verändert, ihn in der Zwischenzeit so verändert, daß ich auf die unauffälligste Weise nach Grafenhof paßte, in die Kategorie der Aufgeschwemmten gehörte ich jetzt, aufgebläht von meinem Pneumoperitoneum, gedunsen von allen möglichen Medikamenten, die in mich hineingestopft wurden, wirkte ich hier
natürlich
, nicht als eine Unnatur, ich sah
entsprechend krank
aus und war auch alles, nur nicht gesund. Der Doktor der Rechte, der Sozialist, der Massenprediger, den die Ärzte haßten und der mich im Zwölferzimmer mit seinen sozialistischen Ideen nicht in Ruhe gelassen hatte, war jetzt nicht mehr in der Lage gewesen, mir Marx und Engels einzutrichtern, mir seinen grundsozialistischen Entwurf einer kommenden Welt klarzumachen, er mußte sich mit seiner Bettlägerigkeit und mit dem daraus folgernden pausenlosen Aufdiedeckestarren zufriedengeben. Er strömte den Geruch aus, den ich von der Lungenbaracke im Krankenhaus kannte, und zuerst war ich vor allem aus diesem Grunde entsetzt gewesen, sein Zimmer teilen zu müssen. Aber ich gewöhnte mich an den Geruch und an die traurigmachende Veränderung, die mit dem Doktor in der Zwischenzeit vorgegangen war. Jetzt sagte er nichts mehr von der Räterepublik, und er sprach auch niemals mehr die Namen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus. Er hatte die Gewohnheit, zuerst in die hohle Hand zu spucken und erst von da aus das Gespuckte in die Flasche abzulassen, was scheitern mußte, es kümmerte ihn nicht, daß mich sein mühseliges und langes Ziehen an der Lunge, das von schauerlichen Geräuschen begleitet war, verrückt machte, vor allem in der Nacht, die allein von ihm und seinem Ziehen an seinen Lungenflügeln beherrscht war. Diese Nächte waren die längsten in meinem Leben. Nur einmal am Tag stand der Doktor mit Hilfe der Schwester auf, um gewaschen zu werden, es gab naturgemäß damals noch kein Badezimmer, nur ein Waschbecken an der Wand. Da stand er da, nackt und röchelnd, und ließ sich, der Gescheiterte, reinigen, ohne Widerspruch. Die Prozedur erschöpfte ihn gleich, und wenn er, unter Aufbringung aller Mühseligkeiten, wieder ins Bett gebracht war, schlief er sofort ein. Das gab mir die Gelegenheit, aufzustehen, um mich zu waschen. Hinter meinem Rücken hörte ich die schweren Atemzüge aus den Fetzen einer schon beinahe völlig funktionslosen Lunge, ich erlebte das Ende eines Idealisten, Sozialisten, Revolutionärs, für den die Welt sich ihre
entsprechende
Strafe ausgesucht hatte. Ich erinnerte mich an die Zurechtweisungen, die der Doktor im Zwölferzimmer nicht nur von den Ärzten, auch von den katholischen Schwestern zu ertragen gehabt hatte, an die Mißachtung seiner Person gerade von jenen Leuten, die von sich selbst und in allen ihren Handlungen immer wieder behaupteten, zivilisiert zu sein, Kultur zu haben. Das Verhalten der Ärzte gegenüber dem Doktor, der sich, soweit ich mich erinnere, keine Disziplinverletzung zuschulden kommen hatte lassen, war niederträchtig gewesen, die Geringschätzung, ja der Haß, den ihn die sogenannten geistlichen Schwestern ununterbrochen spüren ließen, waren eine bodenlose Gemeinheit. Hier hatte ich ein Beispiel für die Erfahrung, daß der Ehrliche, der seinen Gedanken mit Konsequenz und Ausdauer folgt, gleichzeitig aber jene, die anderer Ansicht sind, durchaus in Ruhe läßt, mit Verachtung und mit Haß konfrontiert ist, daß einem solchen gegenüber nichts anderes als die Vernichtung betrieben wird. Denn nichts anderes war die unglaubliche Tatsache, daß der Doktor im Zwölfbettenzimmer mit der ahnungslosen und in ihrer Ahnungslosigkeit doch nur brutalen Belegschaft untergebracht gewesen war, als eine vernichtende

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