Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Bestrafung. Er hatte im Zwölferzimmer kein Buch ruhig lesen können, keine Zeitung, keine zehn Minuten Ruhe gehabt für seine Gedanken, sie haben ihn, mutwillig oder nicht, böswillig oder nicht, gestört, ihn systematisch zugrunde gerichtet. Es mußte zu seinem Zusammenbruch kommen, zur Verlegung aus dem Zwölferzimmer auf
die
Loggia, in welcher nur die schlimmsten Fälle untergebracht waren. Die Peiniger des Doktors waren die ahnungslosen, der Dummheit ziellos folgenden jungen Leute gewesen, denen kein Vorwurf zu machen ist, die naturgemäß hier ganz von selbst außer Rand und Band geratenen Hilfsarbeiter und Lehrlinge, die sich ein Vergnügen daraus machten, den Doktor zugrunde zu sekkieren. Er war schon zu schwach gewesen, um sich dieser Torturen von früh bis spät zu erwehren, er hatte schon aufgegeben. Für kurze Zeit war auch er mein Lehrer gewesen, hatte er mir eine Welt wieder gezeigt, in die mein Großvater mich mit Hingabe und mit Leidenschaft eingeführt hatte, in die andere, in die niedergehaltene, in die unterdrückte, in die untere, er hatte mir die Tür wieder aufgemacht in die Machtlosigkeit. Diese ahnungslosen Burschen hatten ihre Peinigungen des Doktors, den sie sich als tagtägliches Verhöhnungsobjekt erkoren hatten, zu einer regelrechten Peinigungskunst gemacht, hier hatten sie ihre Perversität ausgetobt und aus dem Philosophen einen Narren gemacht. Dieser Philosoph hatte sich ihre Unverschämtheiten gefallen lassen, jeden Widerstand aufgegeben, sich gefügt. Sie sind aber nicht verantwortlich zu machen dafür, daß sie einen Menschen tödlich zugrunde gerichtet haben, denn ihre Unwissenheit war die stumpfsinnige der unmündigen Jugend. Die Schuld trifft die Ärzte, allen voran den Primarius und Direktor, deren eigene fortgesetzte Peinigungsmaschine gegen den Doktor von mir die ganze Zeit während meines Aufenthaltes im Zwölferzimmer beobachtet worden war und die den Haß gegen den Andersdenkenden, gegen den Widerspruch, auf die Spitze getrieben hatten: der Sozialist, der sich offen und ehrlich zu seinem Sozialismus bekannte auch in
dieser
Umgebung, die ja doch nur als eine katholisch-nationalsozialistische zu bezeichnen war, mußte weg, unter allen Umständen, er war ihnen ein Dorn im Auge, sie hatten die Ungeheuerlichkeit gedacht: er, der Feind, muß vernichtet werden. Da er, wie ich weiß, niemanden hatte, mußte er sich seinen Beherrschern bedingungslos fügen, es war ihm ja nicht möglich gewesen, einfach davonzulaufen. Aber die Wahrheit ist, daß zwar die Ärzte ihn wissentlich und gleichzeitig völlig gewissenlos in die Enge und in den Körper- und naturgemäß folgerichtig dann auch in den Geistesruin getrieben haben, daß er selbst aber auch in dieses eigene Ende hinein
geflüchtet ist
, so, mit diesem Willen von zwei Seiten, die nichts als nur teuflisch zu nennen sind, beschleunigte sich sein Verfall. Ich hatte es nicht schwer, mir den Verlauf dieses Prozesses zu rekonstruieren, ich war nicht der unmittelbare Zeuge gewesen, aber ich sah diese Entwicklung
jetzt
. Ich versuchte, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, aber ich scheiterte, ich stieß auf nichts als auf Ablehnung. In einem Winkel lagen seine Bücher, verdreckt, verstaubt, unberührt. Auch wenn ich Lust gehabt hätte, sie zu lesen, ich hätte mich davor geekelt, sie in die Hand zu nehmen. Zum Lesen hatte ich überhaupt keine Lust. Ich schrieb auch nichts, nicht einmal eine Postkarte. Wem hätte ich auch in meiner Situation schreiben können? Das Essen wurde dem Doktor von der Schwester wie einem Tier eingelöffelt, widerwillig, automatisch. Auch zwischen der Schwester und dem Doktor gab es keine Konversation. Wenn sie ihn auszog, wehrte er sich dagegen, auch wenn sie ihn anzog, es setzte Hiebe, Schläge ins Gesicht, die Renitenz des Doktors wurde immer gefährlicher, aber die Schwester blieb davon unbeeindruckt, für sie konnte die ganze Angelegenheit nur eine Frage der kürzesten Zeit sein. Wann ist es soweit, daß man ihn abholt, sich ihn endgültig vom Leibe schafft, ihn nach Schwarzach hinunterbefördert, um ihn los zu sein? dachte ich. Sein Herz schlug und schlug, manchmal wachte ich auf, und mein erster Blick war auf ihn geworfen, ob er noch lebe, ob der Körper neben mir nicht schon tot sei. Aber dieser Körper atmete noch, diese Lunge arbeitete noch. Ich fühlte die Enttäuschung der Schwester darüber, daß der Doktor noch lebt, daß er noch da ist. Wahrscheinlich hat auch sie, wenn sie in der Frühe
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