Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
hat plötzlich zu atmen aufgehört. Kaum hatte er zu atmen aufgehört, waren die graugekleideten Männer von der Prosektur hereingekommen und hatten ihn in den Zinkblechsarg gelegt. Die Schwester hat es nicht mehr erwarten können, daß er zu atmen aufgehört hat, dachte ich. Auch ich hätte zu atmen aufhören können. Wie ich jetzt weiß, war ich gegen fünf Uhr früh wieder zurückgebracht worden in den Krankensaal. Aber die Schwestern, möglicherweise auch die Ärzte, waren sich nicht sicher gewesen, sonst hätten mir die Schwestern nicht gegen sechs in der Früh von dem Krankenhauspfarrer die sogenannte
Letzte Ölung
geben lassen. Ich hatte das Zeremoniell kaum wahrgenommen. An vielen andern habe ich es später beobachten und studieren können. Ich wollte
leben
, alles andere bedeutete nichts. Leben, und zwar
mein
Leben leben,
wie und solange ich es will
. Das war kein Schwur, das hatte sich der, der
schon aufgegeben gewesen war
, in dem Augenblick, in welchem der andere vor ihm zu atmen aufgehört hatte, vorgenommen. Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden. Unsinnig, darüber nachzudenken, ob diese Entscheidung falsch oder richtig gewesen ist. Die Tatsache, daß die schwere, nasse Wäsche nicht auf mein Gesicht gefallen war und mich nicht erstickt hatte, war die Ursache dafür gewesen, daß ich nicht aufhören wollte zu atmen. Ich hatte nicht, wie der andere vor mir, aufhören wollen zu atmen, ich hatte weiteratmen und weiterleben wollen. Ich mußte die sicher auf meinen Tod eingestellte Schwester zwingen, mich aus dem Badezimmer heraus- und in den Krankensaal zurückführen zu lassen, und also mußte ich
weiter
atmen. Hätte ich nur einen Augenblick in diesem meinem Willen nachgelassen, ich hätte keine einzige Stunde länger gelebt. Es war an mir, ob ich weiteratmete oder nicht. Nicht die Leichenträger in ihren Prosekturkitteln waren in das Badezimmer hereingekommen, um mich abzuholen, sondern die weißen Pfleger, die mich in den Krankensaal zurückgebracht haben, wie ich es wollte.
Ich
bestimmte, welchen der beiden möglichen Wege ich zu gehen hatte. Der Weg in den Tod wäre leicht gewesen. Genauso hat der Lebensweg den Vorteil der Selbstbestimmung. Ich habe nicht alles verloren, mir ist alles geblieben. Daran denke ich, will ich weiter. Gegen Abend hatte ich zum erstenmal einen Menschen erkannt, meinen Großvater. Er hatte sich neben mir auf einen Sessel gesetzt und meine Hand festgehalten. Jetzt war ich mir sicher. Jetzt mußte es aufwärts gehen. Ein paar Wörter seinerseits, dann war ich erschöpft gewesen. Auch meine Großmutter und meine Mutter hatten ihren Besuch angekündigt. Er, der nur wenige hundert Schritte in einem anderen, in dem sogenannten chirurgischen Gebäudekomplex desselben Krankenhauses untergebracht war, werde mich von jetzt an täglich besuchen, so mein Großvater. Ich hatte das Glück, den mir liebsten Menschen in nächster Nähe zu wissen. Eine Menge herzstärkender Mittel, die mir zusätzlich zu Penicillin und Kampfer verabreicht worden waren, hatten meinen Zustand, wenigstens was mein Wahrnehmungsvermögen betroffen hatte, verbessert, langsam waren aus den Schatten von Menschen und Mauern und Gegenständen wirkliche Menschen und wirkliche Mauern und wirkliche Gegenstände geworden, als ob sich am nächsten Morgen nach und nach alles aufgeklart hätte. Die Stimmen hatten jetzt aufeinmal die zum Gehörtwerden notwendige Deutlichkeit und waren mir plötzlich verständlich gewesen. Die Hände, die mich berührten, waren aufeinmal die von Schwestern, die mir bis jetzt immer nur als große weiße Flecken vor meinen Augen erschienen waren, ein Gesicht, ein zweites Gesicht hatte ich ganz klar gesehen. Aus den Betten meiner Mitpatienten waren nicht nur undeutliche Stimmen und Geräusche, sondern aufeinmal tatsächlich vollkommen verständliche Wörter, ja ganze Sätze zu hören gewesen, als ob zwischen zwei Patienten eine Unterhaltung über mich stattgefunden hätte, war es mir vorgekommen, Anspielungen auf mein Bett und auf meine Person waren für mich ohne weiteres erkennbar. Jetzt hatte ich den Eindruck, daß mehrere Schwestern und Pfleger und ein Arzt im Krankensaal mit einem Toten beschäftigt gewesen waren, alles, was ich hörte, waren Hinweise darauf, daß von einem Toten gesprochen wurde. Aber ich hatte nichts von dem Toten sehen können. Ein Name war genannt worden, dann war die Unterhaltung unter
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