Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
steckte, mit seinem anderen Ende hineingelegt worden war, genau der gleiche Gummischlauch, den wir im Geschäft zum Essigabziehen verwendeten und durch welchen nach und nach, und zwar stoßweise unter rhythmischen Pump- und Sauggeräuschen die schon erwähnte gelbgraue Flüssigkeit in das Gurkenglas abgeleitet, und zwar so lange abgeleitet worden war, bis das Gurkenglas neben mir über die Hälfte angefüllt gewesen war, hatte zu plötzlicher Übelkeit und in eine unmittelbar darauffolgende neuerliche Bewußtlosigkeit geführt. Erst im Krankensaal, in meinem Eckbett, war ich wieder zu mir gekommen. Ich hatte kein Zeitgefühl, und ich wußte nicht wann und nicht, wie ich in das Krankenhaus gekommen und wie lange ich bewußtlos gewesen war, als ich zum erstenmal in dem Krankensaal aufwachte. Ich hatte zwar die Schatten von Menschen vor mir gesehen, aber nicht verstanden, was sie gesprochen, zu mir gesagt hatten. Zuerst war mir selbst die Ursache meines Krankenhausaufenthaltes nicht bekannt gewesen. Ich fühlte aber, daß es sich um eine
schwere
Erkrankung handelte. Nach und nach erinnerte ich mich an den Ausbruch der Krankheit und daß ich mehrere Tage im Großvaterzimmer gelegen war. Plötzlich war meine tagelange Betrachtung des Großvaterzimmers abgebrochen gewesen. Dann nichts mehr, nicht die kleinste, nicht die geringste Erinnerung. Jetzt war mir aber klar geworden, daß mich meine den halben Winter ignorierte
Verkühlung
in das Krankenhaus hereingebracht hatte. Ich war dem Großvater in das Krankenhaus nachgefolgt. Ich versuchte eine Rekonstruktion der Ereignisse und Geschehnisse der letztvergangenen Tage und scheiterte. Jeder Gedanke war bald von Mattigkeit und von Müdigkeit abgebrochen, unmöglich gemacht. Kein Gesicht, das ich kannte, kein Mensch, der mich aufklärte. In immer kürzeren Abständen war ich abgedeckt, war mir ein Medikament injiziert worden. Ich versuchte mich an den Schatten und an den Geräuschen zu orientieren, aber es blieb alles unklar. Manchmal schien es, als hätte jemand etwas zu mir gesagt, aber dann war es schon zu spät, ich hatte es nicht verstanden. Die Gegenstände waren undeutlich, schließlich überhaupt nicht mehr erkennbar gewesen, die Stimmen hatten sich entfernt. Es war Tag, es war Nacht, immer der gleiche Zustand. Das Gesicht des Großvaters, vielleicht das der Großmutter, meiner Mutter. Dann und wann war mir Nahrung eingeflößt worden. Keine Bewegung mehr, nichts mehr. Mein Bett wird auf Räder gehoben und durch den Krankensaal geschoben, hinaus auf den Gang, durch eine Tür, so weit, daß es an ein anderes anstößt. Ich bin im Badezimmer. Ich weiß, was das bedeutet. Jede halbe Stunde kommt eine Schwester herein und hebt meine Hand auf und läßt sie wieder fallen, das gleiche macht sie wahrscheinlich mit einer Hand in dem Bett vor meinem Bett, das schon länger als meines in dem Badezimmer gestanden ist. Die Abstände, in welchen die Schwester hereinkommt, verringern sich. Irgendwann kommen graugekleidete Männer mit einem verschlossenen Zinkblechsarg herein, decken ihn ab und legen einen nackten Menschen hinein. Mir ist klar, der, den sie an mir vorbei in dem wieder festverschlossenen Zinkblechsarg aus dem Badezimmer hinaustragen, ist der Mensch aus dem Bett vor meinem Bett. Die Schwester kommt jetzt nurmehr noch meine Hand aufzuheben. Ob noch ein Pulsschlag feststellbar ist. Plötzlich fällt die nasse und schwere Wäsche, die die ganze Zeit an einem quer durch das Badezimmer und gerade über mir gespannten Strick aufgehängt gewesen war, auf mich. Zehn Zentimeter, und die Wäsche wäre auf mein Gesicht gefallen, und ich wäre erstickt. Die Schwester kommt herein und packt die Wäsche und wirft sie auf einen Sessel neben der Badewanne. Dann hebt sie meine Hand auf. Sie geht die ganze Nacht durch die Zimmer und hebt immer wieder Hände auf und fühlt den Pulsschlag. Sie fängt an, das Bett abzuziehen, in welchem gerade ein Mensch gestorben ist. Dem Atem nach ein Mann. Sie wirft das Bettzeug auf den Boden und hebt, wie wenn sie jetzt auf meinen Tod wartete, meine Hand auf. Dann bückt sie sich, nimmt das Bettzeug und geht mit dem Bettzeug hinaus.
Jetzt
will ich leben. Ein paarmal noch kommt die Schwester herein und hebt meine Hand auf. Dann, gegen Morgen, kommen Pfleger und heben mein Bett auf Gummiräder und fahren es in den Krankensaal zurück. Plötzlich, denke ich, hat der Atem des Mannes vor mir aufgehört. Ich will nicht sterben, denke ich.
Jetzt
nicht. Der Mann
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