Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
ließ er sich so gehen? Verdrießlich bemerkte er, diesen unstimmigen Zustand zwischen ihnen kaum ertragen zu können, obwohl er ihn selbst verursacht hatte. Aber in dem Moment, so musste er sich ebenfalls eingestehen, hatte er nicht anders gekonnt. Er stand auf. Schluss damit! Es war jetzt zwanzig Uhr und noch genügend Zeit für unerledigte Arbeiten. Als er sich auf der Treppe genau zwischen Ober- und Untergeschoss befand, klingelte unten im Büro das Telefon und zeitgleich oben in der Wohnung der Privatanschluss. Diese Nummer kannten nur wenige Auserwählte. Unten, das war sicherlich ein Patient, Und oben? Anke? Bei dem Gedanken trotzte etwas in ihm wie in einem kleinen Jungen, der jetzt das nicht mehr haben wollte, was er vorher so sehnlich begehrt hatte. Somit eilte er ins Büro und nahm ab. In einer anderen Situation hätte er das nicht getan, dann wäre er nach oben gelaufen. Patienten, die ihn möglicherweise außer der Reihe dringend bräuchten, besaßen seine Handynummer, wussten, dass sie ihn nur über diese erreichen konnten. Der jetzt hier anklingelte, musste ein neuer Patient sein. Wolf meldete sich aufgrund seiner Gedanken etwas ungehalten. Darauf hin folgte Stille.
„ Hallooo!?“
Wolf ärgerte sich, überhaupt rangegangen zu sein und nicht doch nach oben gerannt war zum anderen Apparat. Es war bestimmt Anke gewesen. Und wenn, dann würde bald sein Handy läuten und das lag auch oben. Er trat sich im Geiste in den Hintern.
„Dr. Heinzgen?“ vernahm er eine zögernde, jugendlich klingende Stimme.
Wolf nickte, besann sich und sagte schlicht: „Ja“.
„Hier ist Leon Kortes. Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich, aber vielleicht an meinen Vater, er hat mal ...“
„ Dr. Kortes, Klaus Kortes?“
„ Ja, ja, ich ...“
„ Es tut mir leid, die Sache mit Ihren Eltern, ich habe davon gehört.“
„ Ist schon etwas her. Ich hab’s überwunden.“
„ War sicher schlimm für Sie.“
„ Ja, verdammt, deswegen rufe ich aber nicht an.“
Wolf wunderte sich, wie schnell sich die zögernde Stimme in eine energische verwandelte und erwiderte nichts, wartete.
Nach mehreren Sekunden Stille in der Leitung vernahm Wolf ein Räuspern, wie er es selbst auch immer an den Tag legte, wenn er etwas Wichtiges oder gar Unangenehmes zu sagen hatte. Wolf spürte Leons Formulierungsproblem.
„ Ich hätte eine Patientin für Sie“, begann er, „Geld spielt keine Rolle.“
Bei den niedrigen Kassensätzen klang es wohl in Wolfs Ohren, aber er sagte:
„Das ist nicht entscheidend.“
„ Meine Freundin, meine zukünftige Frau, sie müsste dringend eine Therapie machen. Ach verdammt, wie soll ich Ihnen das erklären?“
„ Indem Sie ohne zu überlegen Ihre Gedanken in Worte fassen, wenn es auch holperig klingt.“
„ O.K. Ich versuch's. Und dann folgte ohne Luft zu holen: Sie ist schwer gestört, lebte lange in einer satanischen Sekte. Wir sind abgehauen, sozusagen auf der Flucht. Wenn sie Panik bekommt, will sie sich jedes mal umbringen. Jetzt legte der Anrufer eine kleine Atempause ein. In Wolf schwirrten unterdessen die Gedanken. Komisch, dass er ausgerechnet jetzt, wo Anke sich mit Sekten befasste, ebenfalls mit dergleichen konfrontiert wird.
„ Und“, wieder Schweigen. „Und wir erwarten ein Baby, reicht das?“
Wolf schluckte. Ihm war inzwischen heiß geworden. Ausgerechnet das ereilte ihn jetzt. Wenn Anke das wüsste, wo war sie nur? Jetzt fiel es ihm ein, wahrscheinlich in der Redaktion.
„Augenblick.“
Wolf versuchte ungelenk mit einer Hand in seinem Kalender die Seiten umzublättern, fand vor Nervosität die richtige nicht, legte den Hörer aus der Hand, zwang sich zur Ruhe, Sekte, satanische, Himmel! Endlich hatte er die Woche nach Weihnachten im Kalender vor sich.
„Muss das noch zwischen den Jahren sein?“
„ Am besten gestern, Dr. Heinzgen.“
„ Also gut, am Donnerstag, 27.12., 16.00 Uhr.“
„ Ich bringe sie, obwohl sie strenge Bettruhe hat.“
Ehe Wolf fragen konnte, wie die junge Dame heißt, hatte Leon Kortes schon aufgelegt. Wolf notierte: Leon Kortes/Freundin.
Er begann seine Wanderung zwischen Stühlen und um seinen Schreibtisch herum. Der Anruf wühlte ihn auf? Eine neue Patientin, na und? Jedoch die Worte in seinem Ohr, satanische Sekte, elektrisierten ihn erneut. In Bonn war vor einigen Wochen ein Ritualmord verübt worden. Anke arbeitete an diesem Thema. Ob er es wollte oder nicht, aber es schien, als würde er wieder einmal in ihre Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher