Die Babysammlerin (Contoli-Heinzgen-Krimi)
schleppte sich über den Flur zur Gemeinschaftstoilette. Hier erbrach sie. Nora eilte ihr zur Hilfe, legte ihre zitternde Hand auf Caras Stirn.
Die morgendliche Übelkeit wiederholte sich. Tagsüber litt sie unter Schwindel, sah bleich und krank aus. Das Gute war, dass es ihr weitere Liebesnächte ersparte. In klaren Momenten beobachtete Nora ihre Tochter besorgt. Simeon verhielt sich, als ginge ihn das alles nichts an. Ihn plagten andere Probleme. Immer wieder beklagte er sich bei jedem, der in seinem Dunstkreis auftauchte, den Unmut über seine Stellung in der Gemeinschaft. Er war Gebieten gewohnt und
nicht, ein Untertan zu sein. Vor allem wurde er von seinem Vater, dem Führer, als Herrscher auserkoren und ausgebildet. Nora wiederum scherte sich nicht um die Sorgen ihres Mannes. Es war ihr egal. Sie ertrug die bitteren Verhältnisse nur in betäubtem Zustand und träumte davon, wieder in Berlin zu sein.
Eines Abends verlangte der Guru erneut nach Cara. Doch kurze Zeit später kehrte sie in Tränen aufgelöst ins elterliche Zimmer zurück.
„So geht das nicht weiter“, jammerte Nora laut. Simeon schlug ihr ins Gesicht. Cara zuckte wie ihre Mutter zusammen und sah erstaunt ihren Vater an. Zum ersten Mal hatte er Nora geschlagen. Simeon wandte sich Cara zu.
„ Was ist los? Bist du nicht mehr gut genug für ihn? Hat Satan dich verflucht?! Nun sag schon!“
Cara schluckte ihre Tränen.
„Er hat gesagt, ich sei zu dick geworden. Ab morgen bekomme ich nichts mehr zu essen, bis ich wieder schlank bin.“
„ Lass sehen, zieh dich aus.“
Cara legte am ganzen Körper zitternd ihre Kleidung ab. Simeon betrachtete sie. Nora starrte sie an.
„Die Übelkeit, oh mein Gott, sie ist schwanger.“
„ Blutest du noch regelmäßig?“, fragte Simeon barsch.
Cara schüttelte den Kopf.
Nora klärte am nächsten Tag den Guru über Caras andere Umstände auf und erreichte, dass ihre Tochter weiterhin zu essen bekam. Aber der Guru gab Nora unmissverständlich zu verstehen: „Dieses Kind gehört Satan.“
Trotz ihres überwiegend benommenen Zustands begriff Nora, was das bedeutete, aber sie behielt ihr Wissen für sich. Cara würde es noch früh genug erfahren. Vielleicht waren sie zur Geburt des Kindes ja schon wieder in Berlin. In irgendeiner kleinen Wohnung. Nur sie, Cara und Simeon. Versteckt vor dem Zugriff der Sekte und der Polizei. Von diesem Wunsch war Nora besessen. Selbst in den wenigen klaren Momenten reichte ihr Vorstellungsvermögen nicht aus, sich einen dauerhaften Aufenthalt in diesem indischen Bündnis des Satans vorzustellen.
Als ihr Zustand sichtbar wurde, musste Cara sich von ihren Eltern trennen. Eine junge Frau holte sie morgens aus dem Bett und geleitete sie in das Haus für Schwangere. Hier lebte sie mit noch fünf anderen Frauen unter strenger Bewachung zweier Männer und einer Frau namens Lenia, die deutsch-indischer Abstammung war. Der Guru, so flüsterten die Frauen, brauchte im Sinne Satans eine ständige Kontrolle über das heranwachsende Leben. Keine der werdenden Mütter sollte je auf den selbstverständlichen Gedanken kommen, ihr Baby für sich behalten zu wollen. Jede war unsicher, wen es treffen könnte. Langsam begriff Cara. Sie zog sich völlig in sich zurück, ließ den Tagesablauf über sich ergehen, weinte sich abends leise in den Schlaf und sehnte sich nach ihrer Mutter. Und manchmal wünschte sie sich den Tod herbei.
Die schwangeren Frauen raunten, dass sie mit Rücksicht auf ihren Zustand von den schwarzen Messen ferngehalten wurden. Niemand sollte von ihrer Schwangerschaft im satanischen Camp wissen. Stattdessen allerdings mussten sie endlose Belehrungen über ein Leben zu Willen des Höchsten über sich ergehen lassen.
Nora versuchte mehrmals vergeblich, vom Guru eine Besuchsgenehmigung zu bekommen. Selbst Simeon wurde abgewiesen. Das verstärkte seine Wut und seinen Entschluss, die Macht an sich zu reißen. Ständig lauerte er auf den passenden Moment, endlich zuschlagen zu können. Unterdessen schwanden Noras Hoffnungen, diesen grauenvollen Ort verlassen zu können, von Tag zu Tag. Im gleichen Verhältnis stieg ihr Drogenkonsum. Simeon gab sich aus Verdrossenheit lieber dezimiert dem Alkohol hin und verzichtete bewusst auf Drogen anderer Art. Er wollte seinen Kopf für den entscheidenden Augenblick so weit wie möglich klar halten.
Caras Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen. Ein neuer April näherte sich und damit auch das Fest der Walpurgisnacht, Satans
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