Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
hübsch bezeichnen würden, dachte er. Vielleicht nicht besonders aufregend, doch mit einer fraulichen Figur, die in ihrem hellgrauen Kostüm gut zur Geltung kam. Fünf, sechs Kilo könnte sie allerdings loswerden, dachte er sich. Aber andererseits wollte er bei der Arbeit auch keine allzu attraktive Frau um sich haben, das wäre einfach zu anstrengend. Die Leiterin des Dezernats für Gewaltverbrechen, Polizeihauptkommissarin Agnes Finckenhagen, stellte in dieser Hinsicht überhaupt kein Problem dar. Sie war ein Klappergestell in Vikens Alter, hatte eine schiefe Nase und schmale Lippen. An sie hatte Nina Jebsen ihre Frage gerichtet. Agnes Finckenhagens Mund wurde noch schmaler. Viken hatte längst herausgefunden, dass sie damit Entschlossenheit demonstrieren wollte.
»Ein Wildexperte hat sich die Sache angesehen«, entgegnete sie, »und unsere Annahme bestätigt.« Sie lächelte kurz zu Arve Norbakk hinüber, der auf der anderen Seite des Tisches saß. »Die Verletzungen des Todesopfers, Hilde Sofie Paulsen, könnten von einem Bären stammen.«
Vikens Miene hatte eine entspannte Ausdruckslosigkeit angenommen, während sie sprach. Die Sache lief gut; sie hatte ihn vor diesem Treffen ausdrücklich dafür gelobt, Norbakk hinzugezogen zu haben. Norbakk hatte selbst schon Bären mit Peilsendern versehen, damit diese jederzeit auffindbar waren, und konnte zweifellos als Experte angesehen werden, was die tödlichen Verletzungen und das Lesen von Bärenspuren betraf. Nachdem die Frau aufgefunden worden war, hatten sie die Sache von Anfang an unter Kontrolle gehabt und das auch der Presse gegenüber deutlich gemacht. Diskret hatte Viken Agnes Finckenhagen daran erinnert, dass Norbakk auf seine Empfehlung hin angestellt worden war, obwohl sein Dienstalter dies eigentlich noch nicht zugelassen hätte.
»Wenn es ein Bär ist, dann sollten wir ihn aufspüren«, schlug der Kollege Sigmundur Helgarsson vor und lächelte Norbakk breit an. »Arve ist ja wohl nicht der einzige Jäger unter uns.«
»Tolle Idee, Sigge«, sagte Viken tonlos, »du hast in deiner Kindheit bestimmt viele Eisbären erlegt.«
»Gibt es in Island Eisbären?«, wollte Nina Jebsen wissen.
Agnes Finckenhagen hob beide Hände.
»Lasst uns sachlich bleiben. Dies ist ein zutiefst tragischer und aufsehenerregender Vorfall, der eine Zeitlang die Schlagzeilen beherrschen wird. Die Todesursache steht immer noch nicht fest, aber hoffen wir mal, dass sich der Kriminaldauerdienst der Sache annimmt.«
Viken bezweifelte, dass sie das wirklich hoffte. Aus irgendeinem Grund war sie bereits von zwei Zeitungen, VG und Dagbladet, interviewt worden und hatte nachher noch einen Termin mit TV 2. Ihre Uniform war frisch gebügelt, und den Vormittag hätte sie bestimmt beim Friseur verbracht, um ihre dünnen Strähnen ein bisschen auf Vordermann zu bringen, falls sie dafür Zeit gefunden hätte. Niemand von denen da oben zweifelt an meinen Führungsqualitäten, dachte er. Nicht nur in fachlicher, sondern auch in menschlicher Hinsicht. Agnes Finckenhagen hatte die Stelle, auf die sie sich beide beworben hatten, aus ganz anderen Gründen bekommen. Er lächelte sie entwaffnend an. Nur zu, Finckenhagen, leg dich ins Zeug.
Arve Norbakk richtete sich in seinem Stuhl auf. Unter dem blonden Pony hatte er große, braune Augen, die einen vorsichtigen und sanften Eindruck machten, doch Viken wusste, dass sein Kollege äußerst hart zupacken konnte, wenn es darauf ankam. Es war ihm nicht entgangen, dass Nina Jebsen, ja selbst Finckenhagen, sich in Norbakks Gegenwart veränderten. Sie bewegten sich anders, und ihre Stimmen klangen eine Spur höher als sonst. Nicht dass ihn das gestört hätte.
»Ich bin mir sicher, dass dies kein Fall für den Jagdausschuss ist«, sagte Norbakk.
»Ach ja?«, fragte Agnes Finckenhagen. »Warum denn?«
Er schien einen Augenblick nachzudenken, ehe er fortfuhr:
»Die Spuren, die wir gefunden haben … sie waren ziemlich frisch.«
»So was erkennst du mit bloßem Auge, großer Bärenjäger?«, fragte Helgarsson grinsend.
»Schnauze, Sigge!«, fuhr Viken dazwischen. »Lass Arve ausreden!«
»Hilde Paulsen wurde seit anderthalb Wochen vermisst«, stellte Norbakk fest. »Aber die Spuren sind nicht so alt.«
»Mit anderen Worten«, übernahm Viken, der schon mit Norbakk über das Thema geredet hatte, »wir sind mit der Sache längst noch nicht fertig. Und wer in diesem Raum glaubt denn allen Ernstes, dass sich ein wilder Bär direkt vor unserer Haustür
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