Die Ballade der Lila K
Darunter ihre Unterschrift, zittrig und ungelenk. Das Ermittlungsverfahren hat nicht einmal eine ganze Stunde in Anspruch genommen.
Meine Mutter hat keine Berufung gegen das Urteil eingelegt. Sie hat sich auch niemals um Wiedereingliederung bemüht. Ein langwieriger und komplizierter Behördenvorgang: Man steht sich stundenlang die Beine in den Bauch und wird dann unverrichteter Dinge wieder weggeschickt, unter dem Vorwand, der Antrag sei nicht vollständig. Auch eine Methode, die weniger stark Motivierten auszuschließen, die Wehrlosesten nicht zu vergessen. Zu dieser Gruppe zählte meine Mutter. Damals war sie schon am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte sich mit ihrem Los abgefunden. Und so verlängerte sich ihre Verbannung automatisch Jahr um Jahr, um faktisch endgültig zu werden.
Ende November bleiben ihr nach der Abschlusszahlung ihres Arbeitgebers 3 17 , 56 Euro.
Anfang Dezember wird sie beim Arbeitsamt des 13 . Bezirks vorstellig, um sich arbeitssuchend zu melden. Am 8 . Dezember bietet man ihr eine Stelle als Nachtkellnerin an – in der Zone ist die Gesetzgebung weniger streng: Sie erlaubt alleinerziehenden Müttern die Nachtarbeit. Der Lohn ist dürftig, aber die Bar befindet sich gleich neben unserer Wohnung. Sie zögert nicht lange und nimmt die Stelle an.
Die Bar hieß Anatolia . In der Akte habe ich eine Kopie des Arbeitsvertrags gefunden. Die Nachtkellnerinnen durften ihren Verdienst aufstocken, indem sie den Kunden gewisse Dienstleistungen verkauften. Den Preis bestimmten sie selbst. Das Etablissement stellte ihnen dafür Backrooms und sanitäre Anlagen zur Verfügung. Im Gegenzug erklärten sie sich bereit, 70 % der Einnahmen an ihren Arbeitgeber abzutreten. Um es gleich zu sagen: Das Anatolia war ein Bordell und sein Besitzer ein verdammter Zuhälter.
Meine Mutter ließ sich aber nicht darauf ein. Beim Prozess sagte der Barbesitzer aus, sie habe kein einziges Mal von den Backrooms Gebrauch gemacht: Da hat sie sich mächtig geziert. Sie meinte, das widere sie an. Von wegen! Später war sie weniger wählerisch. An meine Mutter gewandt, sagte er noch: Siehst du, mit der Zeit gewöhnt man sich an alles! Der Vorsitzende musste ihn zur Ordnung rufen.
Meine Mutter kannte niemanden im 13 . Bezirk. Allem Anschein nach hatte sie nirgendwo Bekannte. Einen Babysitter konnte sie sich nicht leisten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mich nachts allein zu lassen.
Ich habe mich nie gefürchtet. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Sie hat wohl immer gewartet, bis ich eingeschlafen war, bevor sie zur Arbeit ging. Wenn ich morgens die Augen aufschlug, war sie immer da, lag sie immer an meiner Seite. Es gab nur ein Bett, in dem wir beide Platz hatten.
Den Tag verbrachte ich damit, ihr beim Schlafen zuzusehen, bis sie wach wurde. Ich schmiegte mich an sie, ohne mich zu rühren. Die Wärme und der Geruch ihres Körpers ließen mich den Hunger vergessen.
Meine Mutter hat sich der Therapie wie vorgeschrieben unterzogen – man hatte ihr mit der Entziehung der Elternrechte gedroht, falls sie es nicht tat. Jede Woche ist sie zu den Versammlungen gegangen. Aber die Drogen hat sie nicht aufgegeben.
Ich sehe sie vor mir, wie sie am Fenster raucht. Das Fenster ist geschlossen, damit niemand es mitbekommt. Die Zigarette, die sie zwischen Zeige- und Mittelfinger hält, tanzt auf und ab. Der Rauch entweicht langsam ihrem leicht geöffneten Mund. Dicht an sie gepresst, atme ich die wohlriechenden Spiralen ein.
Die Stimme meiner Mutter war nicht rau, wie man es Rauschgiftsüchtigen nachsagt. In meiner Erinnerung hat sie eine schöne, sanfte, sehr melodiöse Stimme.
Die Geldsorgen bestanden weiter. Den Kontoauszügen nach wurden hohe Beträge abgehoben. Im Lauf der Monate zunehmend höher. Vor Gericht war es ein Leichtes nachzuweisen, dass sie damit Drogen gekauft hatte.
Ja, sie hat Drogen genommen, sich mit Nikotin benebelt, mit Alkohol und anderem Dreck betäubt. Das hinderte sie aber nicht daran, eine gute Mutter zu sein, wie die Fakten belegen: Jeden Monat brachte sie mich zur Kontrolluntersuchung in die Mutter-Kind-Einrichtung des Bezirks. Zweieinhalb Jahre lang versäumte sie keinen einzigen Termin. Der letzte Bericht ist auf den 26 . April ’ 92 datiert, ich habe ja schon daraus zitiert: Die Kleine strotzt vor Gesundheit. Spricht schon flüssig. Wie kann ein Kind vernachlässigt sein, wenn es mit 30 Monaten flüssig spricht? Wenn es so viel Kleidung und Spielzeug bekommt? Wie beispielsweise am 13 .
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