Die Ballade der Lila K
April 92 ein Kleid Größe 98 , zwei Hemdchen und mehrere Höschen. Am 22 . April drei Kleider und zwei Paar Schuhe. Am 24 . Juni eine grenadinerote Weste und eine graue Plüschkatze. Für mich gibt sie das Geld mit vollen Händen aus. Ruiniert sich.
Ab Mai stellt sie die Zahlungen für Miete, Wasser und Strom ein. Die Mahnschreiben häufen sich, aber sie reagiert nicht darauf. Es gibt noch andere Schreiben, von ihren Nachbarn an den Vermieter gerichtet. Einer beschwert sich über den Drogengestank, Tabak und anderes Zeug (sic!), der aus der Wohnung meiner Mutter dringt. Eine gewisse Madame P… – der Name wurde auf Wunsch der Betroffenen in der Akte getilgt – behauptet, sie um sieben Uhr morgens in der Eingangshalle gefunden zu haben, bewusstlos, mit Drogen vollgepumpt. Im Juni ’ 92 , knapp ein Jahr nach unserem Einzug, leitet der Vermieter ein Räumungsverfahren ein.
Die Gerichtsvollzieher sind am Morgen des 30 . Juni auf den Plan getreten. Daran kann ich mich gar nicht erinnern, und das ist vermutlich besser so.
Liste der gepfändeten Gegenstände: ein Bettgestell, 140 cm breit, samt Matratze, ein viereckiger Tisch ( 75 × 75 cm) aus unbehandelter Kiefer, dazu ein passender Stuhl, eine rote Metalllampe, zwei Teller aus weißem Porzellan mit Blumendekor, zwei Gläser, eine Besteckgarnitur aus rostfreiem Stahl, bestehend aus zwei Messern, zwei Gabeln, zwei Suppen- und zwei Teelöffeln, ein Stahlkochtopf, Durchmesser 22 cm, eine blaue gläserne Salatschüssel, ein Kinderwagen, ein Silberring, eine goldene Kette mit Anhänger in Herzform. Alles andere – Bettwäsche, Kleidung, Spielsachen, Waschzeug – darf meine Mutter behalten.
Das Sozialamt hat uns noch am selben Tag ein Wohnheim im 36 . Bezirk zugewiesen. Sie wissen ja, wie es da zugeht, das muss ich Ihnen nicht groß schildern. Dort verkehrt gar nichts mehr, weder Züge noch Shuttles, noch sonst irgendwas. Jeder weiß, dass man jenseits des 30 . Bezirks nicht mehr menschenwürdig leben kann. Zu viele verkrachte Existenzen, zu viele hoffnungslose Fälle. Die sozialen Einrichtungen sind überfordert. Die Polizei ebenfalls. In gewisser Hinsicht war das sogar ein Glück: Eine funktionierende Verwaltung hätte mich schon damals von meiner Mutter getrennt.
***
Lucrezia wurde Ende April festgenommen. Sechs Tage später gaben die überregionalen Nachrichten die Zerschlagung eines illegalen Netzwerks bekannt, das innerhalb der Großen Bibliothek agiert und die Zensur mit Hilfe mehrerer Dutzend heimlicher Scanner im großen Stil hintergangen habe. Lucrezia wurde als aktives Mitglied der Organisation benannt. Angeblich hatte sie alles gestanden. Mehrere Mitarbeiter der Digitalisierungsabteilung standen ebenfalls unter Verdacht. Außerdem war von Ihnen die Rede, Milo, als mutmaßlichem Kopf der Organisation.
Es heißt, dass Copland die Polizeiarbeit nach Kräften unterstützt hat. Seit Ihrer Verhaftung leitet er die Abteilung, kein Wunder, dass er so leidenschaftlich dabei ist. Das Ministerium hat ihm überschwänglich für seinen Einsatz gedankt.
So entsetzt Fernand war, er hat sich zusammengerissen. Er hat nichts gesagt. Kein einziges Wort gegen Sie. Der liebe Fernand, ich kann mir vorstellen, wie schwer ihm das fiel, aber er wollte mir bis zum bitteren Ende Halt geben.
»Was wird mit ihm geschehen, Fernand? Was werden sie ihm antun?«
»Keine Panik, Lila: Wenn sie vom mutmaßlichen Kopf reden, liegt nichts Konkretes gegen ihn vor, nur Verdachtsmomente. Diese junge Frau, Lucrezia, hat ihn anscheinend nicht verraten.«
»Aber was nicht ist, kann noch werden, Fernand, das wissen Sie besser als ich! Die sind doch in der Lage, ihr alle möglichen Geständnisse abzupressen!«
»Nur keine Panik«, wiederholte Fernand. »Zurzeit haben sie keine Handhabe gegen ihn, darauf kommt es an. Wir leben in einem Rechtsstaat, Lila. Bei uns wird niemand aufgrund eines bloßen Verdachts verurteilt.«
Ich dachte die ganze Zeit an Sie, Milo, wenn ich nicht gerade im Wandschrank lag. Fernand tat sein Bestes, um vom Ministerium zu erfahren, was mit Ihnen war. Vergebens. Die Ungewissheit wurde immer unerträglicher.
Ich versuchte, mir möglichst nichts anmerken zu lassen, wegen der psychiatrischen Nachsorge. Die Fassade musste gewahrt bleiben. Also bin ich weiterhin jeden Tag joggen gegangen, habe Stadtbummel unternommen, um am sozialen Leben teilzuhaben , gönnte mir wöchentlich zwei Sensor-Sitzungen und bestellte die typgerechten Mahlzeiten, die von Ernährungsberatern
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