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Die Ballade der Lila K

Die Ballade der Lila K

Titel: Die Ballade der Lila K Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blandine Le Callet
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ich bereits aus meiner Akte kannte, bloß dass hier der Name Moïra Steiner vollständig ausgeschrieben steht. Außerdem gibt es ein Foto – ich weiß nicht, wer es gemacht hat, vermutlich einer der Fotografen, die von Zimmer zu Zimmer gehen, um die jungen Wöchnerinnen mit ihren Säuglingen zu verewigen und ihnen die Abzüge zu einem horrenden Preis zu verkaufen. Meine Mutter hält mich behutsam fest und lehnt sich ein wenig vor, um mich der Kamera entgegenzustrecken. Sie lächelt. Sie wirkt zugleich stolz und zerbrechlich. Ich trage eins der rosa Babyjäckchen, die sie am 24 . Juli gekauft hat.
    Zunächst lief alles gut. Ich war ihre Prinzessin, ihr Wunderwesen. Für mich gab sie fast das gesamte Geld aus, das sie verdiente. Mir liegen die Rechnungen vor, Milo: Kleidung, Medikamente, Nahrungsmittel, Spielzeug … Es hat mir an nichts gefehlt. Mir liegen auch die Protokolle der ärztlichen Untersuchungen vor, meine Mutter hat keine einzige ausgelassen. Ich war bei guter Gesundheit: normale psychomotorische Entwicklung; etwas kleiner als der Durchschnitt, aber sehr aufgeweckt. Sie war eine vorbildliche Mutter. Und das wäre sie bestimmt geblieben, hätte es die Ereignisse nicht gegeben.
    Die Unruhen begannen im September ’ 90 . Sie waren zwar nicht mit den Aufständen vergleichbar, die vier Monate später in der Zone entbrannten, aber ich kann trotzdem verstehen, dass die Leute Angst hatten, vor allem, weil die Ordnungskräfte so brutal eingegriffen haben. Ich nehme an, dass das der Grund war, warum meine Mutter Anfang Oktober einen Antrag auf das Daueraufenthaltsrecht intra muros gestellt hat. Sie hat alle Felder mit ihrer säuberlichen Schrift ausgefüllt, alle erforderlichen Nachweise eingereicht: Lohnabrechnungen, Gesundheitspass, polizeiliches Führungszeugnis, Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers. Im Feld Anlass für den Antrag schreibt sie: Ich wil ein beseres Leben für misch und meine Torter.
    Im Dezember ’ 90 erhält sie von der Einwanderungsbehörde den Bescheid, dass ihr Antrag geprüft und für zulässig befunden wurde. Jetzt muss sie nur noch die endgültige Zustimmung und die Bestätigung durch den Stadtrat abwarten. Eine reine Formalität. Nach zwei Monaten soll sie ihre Daueraufenthaltskarte bekommen.
    Die großen Aufstände sind Anfang Januar ’ 91 ausgebrochen. Ich war kaum anderthalb Jahre alt, und trotzdem sind mir Einzelheiten in Erinnerung geblieben – im Fall eines Traumas ist das offenbar möglich. Ich erinnere mich, dass unten auf der Straße geschrien wurde, Schüsse knallten, Explosionen erschütterten das Gebäude und warfen einen roten Feuerschein auf die Zimmerwände. Ich erinnere mich auch an die Hubschrauber, die Tag und Nacht dicht über die Dächer flogen und ihre Scheinwerfer über die Fassaden wandern ließen, wobei grelles Licht durch die Fenster drang.
    Fast fünf Wochen lang blieben die Zonenbewohner eingesperrt. Die Grenze war geschlossen. Alle Verkehrsmittel standen still. Fünf Wochen ohne Arbeit, ohne Einkommen. Für meine Mutter wie für viele andere eine echte Katastrophe.
    Als es vorbei war, die Aufstände niedergeschlagen, die Zone zur Hälfte in Schutt und Asche gelegt, wurde der Sicherheitsplan verabschiedet, die verstärkten Grenzkontrollen und die Einwanderungsbeschränkungen. Die Leute, die intra muros wohnten, wollten sich schützen, das kann man ihnen nicht verdenken. Für meine Mutter und mich änderte das aber alles.
    Im März ’ 91 bekommt meine Mutter ein Schreiben der Einwanderungsbehörde. Demnach wurden die finanziellen Anforderungen an potentielle intra muros -Bewohner inzwischen erhöht. Aus diesem Grund muss ihr Antrag leider verworfen werden. Ferner steht im Schreiben: Sie behalten jedoch die Arbeitserlaubnis und das begrenzte Aufenthaltsrecht, die Ihnen bisher gewährt wurden.
    Meine Mutter ist zu ihrem Chef gegangen, um die Erlaubnis zur Nachtarbeit einzuholen. Sie wusste natürlich, dass das alleinerziehenden Müttern verwehrt ist. Aber sie hat gehofft, das Verbot umgehen zu können. Ihr Chef weigerte sich. Beim Prozess sagte er aus: Das hat sie mir furchtbar übelgenommen. Sie meinte, dann würde sie eben eine Sondererlaubnis beantragen. Ich war schockiert, weil sie ihr Kind nachts allein lassen wollte, um arbeiten zu gehen. Zutiefst schockiert. Da war er nicht der Einzige. Sämtliche Gutmenschen stimmten im Chor ein. Als ob meine Mutter das leichten Herzens getan hätte! Was für Idioten. Dabei ist es nicht schwer zu verstehen, man

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