Die Ballade der Lila K
Gehen wir alles noch einmal Punkt für Punkt durch, wenn es Ihnen recht ist.
Ich erwiderte: Ja, das ist mir recht. Sie kennen mich, Milo: Als Langstreckenläuferin habe ich viel Ausdauer, außerdem verfüge ich über eine überdurchschnittliche Intelligenz. Ich wusste, dass diese Betonköpfe nichts gegen uns in der Hand hatten, und habe mich nicht aus der Fassung bringen lassen. Mehr als sechs Stunden hielt ich dem Sperrfeuer ihrer Fragen unerschütterlich stand.
Wenn der Ton undeutlich oder gar nicht zu verstehen war – was häufig der Fall war, vor allem bei den Außenaufnahmen –, fragten sie mich nach dem Gesprächsinhalt. Wann immer es ging, habe ich ihnen die Wahrheit gesagt – ohne Not wollte ich nicht lügen. Über das Verfängliche habe ich kein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Es fiel mir nicht schwer zu improvisieren. Dazu musste ich nur auf meinen Vorrat an Dialogbausteinen zurückgreifen, die ich früher auf Weisung von Fernand auswendig gelernt hatte.
Auf eine Aufnahme hatten sie es besonders abgesehen: die Ihres letzten Besuchs im Krankenhaus, als Sie mir ins Ohr flüsterten, wie ich bei unserem Treffen in der Sackgasse vorgehen sollte.
»Da hat Monsieur Templeton Ihnen aber eine Menge erzählt, Mademoiselle! Und er wollte ganz offensichtlich nicht, dass das mitgeschnitten wird … Wissen Sie noch, worum es ging?«
Ich wurde knallrot und tat, als zögerte ich. Schließlich murmelte ich widerwillig:
»Das waren … das waren sehr persönliche Worte … nette Worte.«
Sie lächelten anzüglich.
»Hatten Sie zu Beginn nicht behauptet, Ihr Verhältnis zu Monsieur Templeton sei keineswegs innig, Mademoiselle?«
»Es ist nicht so, wie Sie denken«, antwortete ich und errötete aufs Neue.
Angesichts ihrer zufriedenen Miene wurde mir klar, dass sie mir die ertappte Unschuld restlos abkauften. Die Rolle spielte ich nicht zum Vergnügen, sondern weil ich wusste, wie wichtig es war, ihnen diesen Triumph zu gönnen. Mein schuldbewusstes Stammeln als Trostpreis. Denn ich hatte im Grunde gar nichts preisgegeben.
Sie haben noch ein, zwei Stunden weitergemacht, um sich in dem Gefühl zu sonnen, sie hätten die Situation voll im Griff. Aber ich spürte, dass sie nicht mehr mit vollem Ernst bei der Sache waren. Ich hatte sie tatsächlich davon überzeugt, dass ich ihnen nichts Relevantes mitzuteilen hatte.
Als sie mich im Lauf des Nachmittags gehen ließen, war ich erschöpft, vor allem aber stolz, weil ich diese Bluthunde an der Nase herumgeführt hatte. In erster Linie dachte ich an Sie: Meine Wehrhaftigkeit hatte Sie beschützt, egal, wo Sie steckten. Ich habe Fernand angerufen, damit er mich abholt. Danach bin ich auf dem Bürgersteig in Ohnmacht gefallen.
***
Der Niedergang meiner Mutter hat gleich bei unserer Ankunft im 13 . Bezirk begonnen. Die Geldsorgen, die trüben Zukunftsaussichten, die Grenze, die in immer größere Ferne rückte, dazu die Einsamkeit. Das genügt an sich schon, um alles zu erklären.
Zwischen Juli und Oktober bekommt sie fünf Abmahnungen, weil sie sich wiederholt verspätet hat. Allerdings funktionierten die öffentlichen Verkehrsmittel damals ziemlich schlecht in diesem Teil der Zone. Wenn alles gut lief, betrug die Fahrzeit meiner Mutter zur Arbeit etwas über zwei Stunden. Wie lange sie im Fall von Störungen unterwegs war, weiß ich nicht.
Am 20 . November ’ 91 erscheint sie betrunken am Arbeitsplatz. Ihr Chef ruft sofort den Gewerbeaufsichtsarzt, der ihr eine Verwarnung erteilt. Die Blutprobe ergibt einen Alkoholspiegel von 1 , 32 Promille. Im Spind meiner Mutter wird außerdem eine Schachtel mit fünf Zigaretten gefunden. Ihr wird wegen grober Vergehen fristlos gekündigt, zwei Tage später erhält sie eine Vorladung vor das Verwaltungsgericht des 39 . Arrondissements und wird mit einer zunächst einjährigen Verbannung bestraft, die sich automatisch verlängert, wenn die Auflagen nicht erfüllt werden. Außerdem wird sie zu einer Therapie gezwungen. Die Urteilsschrift endet mit dem üblichen Absatz: Ich, die Unterzeichnende Moïra Steiner, wohnhaft 27 rue de la Brècheaux Loups in Coblaincourt, 13 . Bezirk, erkläre hiermit, die Bestimmung des Paragraphen L 314 - 620 CC zu kennen, die mir erlaubt, gegen das vorliegende Urteil per Einschreiben mit Rückschein Widerspruch einzulegen, unter Wahrung einer Frist von höchstens zwei Wochen nach dessen Unterzeichnung, wohl wissend, dass ich nach Ablauf dieser Frist das Urteil nicht mehr anfechten darf.
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