Die Ballade der Lila K
braucht nur zu rechnen: Wenn sie statt sechs Tagen sechs Nächte arbeitete, verdoppelte sie auf einen Schlag ihren Lohn. Und erreichte damit wieder das erforderliche Mindesteinkommen für die Einwanderung.
In dieser Zeit haben ihre Geldsorgen angefangen. Für die fünf Wochen Arbeitsausfall hatte sie keine Vergütung erhalten. Eine herbe Einbuße, aber die hätte sie durch größere Sparsamkeit ausgleichen können. Das ist ihr nicht gelungen. Sie hat für mich weiterhin Kleider, Kleinkram und Pflegeprodukte gekauft – ihre Kontoauszüge strotzen vor solchen Ausgaben. Zwischen Mai und Anfang Juli bekommt sie drei Mahnschreiben von ihrer Bank. Man droht ihr mit Lohnpfändung. Irgendwann begreift sie, dass es so nicht weitergeht.
Im Juli ’ 91 zieht sie von der Zweizimmerwohnung in Grigny weiter nach Westen, nach Coblaincourt im 13 . Bezirk, eine deutlich weniger privilegierte Gegend, die aber immerhin noch vom Zug angefahren wird. Die Miete beträgt ein Viertel der Miete in Grigny. Mir liegt der Grundriss der Wohnung vor: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Miniküche, Bad. Kein Wandschrank.
***
Am 3 . Februar haben sie mich im Morgengrauen abgeholt. Sie zeigten mir den Vorladungsbescheid: Sie müssen gleich mitkommen, Mademoiselle, wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen, bitte ziehen Sie sich rasch an. Sie lächelten höflich, was noch beunruhigender war. Wenigstens fassten sie mich nicht an.
Sie haben mich in die Conciergerie geführt, in einen großen fensterlosen Raum im Untergeschoss. Ich sollte an einem kleinen Tisch Platz nehmen, auf dem ein riesiger Scheinwerfer stand. Er war ausgeschaltet. Ich habe trotzdem gefragt, ob ich meine Sonnenbrille aufbehalten darf, wegen meiner Lichtunverträglichkeit. Sie lachten.
»Keine Angst, Mademoiselle. Wir werden das Gerät nicht einsetzen. Es gehört bloß zur Einrichtung.«
Dann hat mir einer von ihnen die Brille abgenommen und sie auf den Tisch gelegt.
»Entspannen Sie sich. Wir führen lediglich eine Routinebefragung durch. Anschließend dürfen Sie wieder gehen.«
Sie wollten, dass ich über Sie spreche, über Ihre Aktivitäten. Ich sollte den Männern alles erzählen, was ich über Sie wusste. Ich erwiderte, ich wüsste gar nichts.
»Dabei hatten Sie doch ein enges Verhältnis zu Monsieur Templeton. Sogar ein inniges Verhältnis.«
»So würde ich das nicht nennen.«
Wie um mich Lügen zu strafen, spielten sie eine Aufnahme ab, die Sie und mich Seite an Seite auf der Straße zeigte, bei unserem ersten und einzigen gemeinsamen Spaziergang. Es ärgerte sie sichtlich, dass die Überwachungsroboter unsere Spur dank Ihrer Umwege so rasch wieder verloren hatten.
»Würden Sie uns bitte verraten, wo Sie an diesem Tag hingegangen sind, Mademoiselle?«
»Ich weiß es nicht mehr. Wir sind lange spazieren gegangen. Viele Viertel kannte ich noch gar nicht.«
Meine Antwort schien ihnen nicht zu gefallen. Sie wandten sich einem Mann zu, der sich in einer Ecke im Hintergrund hielt.
»Kann schon sein«, sagte er. »Damals hat sie sich nur mit dem Shuttle von ihrem Inselchen fortbewegt.«
Mit einem resignierten Nicken gingen sie zum nächsten Angriff über:
»Gut, nehmen wir an, Sie wissen wirklich nicht mehr, wo Sie überall gewesen sind. Aber vielleicht wissen Sie noch, worüber Sie miteinander gesprochen haben?«
»Nur sehr vage. Es ging wohl um meinen Gesundheitszustand. Ich war eine Zeitlang krank gewesen, und Monsieur Templeton wollte wissen, wie es mir ging. Es war ein reiner Höflichkeitsbesuch.«
Die Männer musterten mich skeptisch.
»Am bewussten Tag hat Monsieur Templeton um 14 . 22 Uhr bei Ihnen geklingelt. Hier ist die Uhrzeit angezeigt, sehen Sie, auf dem Bildschirm der Überwachungskamera im Hauseingang.«
Dann spielten sie die Aufnahme ab, die unseren Abschied vor dem Gebäude zeigte. Die Uhrzeit auf dem Bildschirm war 18 . 36 Uhr.
»Über vier Stunden. Recht lange für einen Höflichkeitsbesuch, finden Sie nicht auch, Mademoiselle?«
Danach zeigten sie mir unzählige weitere Aufnahmen: Sie und ich auf dem Vorplatz des Memorials; Sie und ich bei diversen Gesprächen in Ihrem Büro oder bei Begegnungen in den Bibliotheksfluren; Sie und ich, als Sie mich im Krankenhaus besuchten, Fernands Wutanfall eingeschlossen. Alles lag ihnen vor. Bis auf die Unterredungen in der Sackgasse.
Ich konnte nicht herausfinden, was sie für einen Verdacht hegten oder was man Ihnen vorwarf. Als ich sie danach fragte, entgegneten sie: Die Fragen stellen wir, Mademoiselle.
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