Die Ballade der Lila K
ersonnen wurden. Kurzum, ich habe vorgegeben, halbwegs normal zu sein.
Eines Tages hat Fernand mir das Abkommen in Erinnerung gerufen, das wir getroffen hatten, als ich meine Stelle in der Bibliothek erhielt: Ich konnte meine Ausbildung jederzeit fortsetzen. Wegen des Geldes brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Das Zentralheim würde wie zugesagt alle Kosten tragen.
»Ein Studium würde dir guttun. Dann hättest du ein Ziel, neue Zukunftsperspektiven. Du bist doch so begabt, Lila!«
»Stimmt, Fernand. Ein Studium wäre nicht schlecht.«
Es würde mir vor allem das Image einer tatendurstigen jungen Frau verleihen, die ihr Trauma endlich überwinden und im Leben weiterkommen wollte. Die ideale Tarnung. Alle wären beruhigt, und ich stünde nicht mehr unter Beobachtung.
»Weißt du schon, was dich interessieren könnte?«
»Noch nicht … Besser gesagt, es gibt so vieles, was mich reizt. Ich muss erst mal darüber nachdenken. Ich will keine voreilige Entscheidung treffen.«
»Das finde ich sehr klug!«
»Geben Sie mir noch ein paar Monate Zeit, um mir alles reiflich zu überlegen?«
»Alle Zeit, die du brauchst! Solange du dich um deine Zukunft kümmerst …«
Und so hatte ich meine Ruhe, Milo, indem ich tonnenweise Broschüren über die unterschiedlichsten Berufe anforderte, Vorlesungsverzeichnisse und Organisationsstruktur der Hochschulen studierte sowie die Einstellungsaussichten, die die jeweiligen Abschlüsse boten … Als ich am 1 . Juni die sechste Nachsorgesitzung absolvierte, war ich gewappnet, gepanzert und bis an die Zähne bewaffnet mit Zuversicht und Zukunftsplänen. Um glaubwürdig zu erscheinen, habe ich dennoch gelegentliche Anfälle von Erschöpfung und Melancholie gebeichtet. Dafür erntete ich ein verständnisvolles Nicken und die Worte: Das ist doch ganz natürlich, Mademoiselle, nach allem, was Sie erlebt haben. Es wird noch eine Zeitlang dauern, bis Sie sich vollständig erholt haben. Der Bericht fiel denkbar günstig aus: Von nun an genügt eine vierteljährliche Nachsorgeuntersuchung. Dann haben sie mich wieder in die Freiheit entlassen.
***
Wir sind nicht lange im Wohnheim des 36 . Bezirks geblieben. Am 15 . Juli zogen wir bereits in eine möblierte Einzimmerwohnung, im sechsten Stock eines Altbaus der letzten Jahrhundertwende – keine Ahnung, wie meine Mutter daran gekommen ist.
Im Übergabeprotokoll sind Wandrisse und Wasseraustritt an der Zimmerdecke verzeichnet, eine kaputte Tür, zersprungene Keramikfliesen im Bad, ein störanfälliger Stromkreis und nicht ganz funktionstüchtige Mischbatterien. Schön war das natürlich nicht. Es war sogar arg heruntergekommen. Aber die Miete war lächerlich gering, und so hatten wir wenigstens ein eigenes Zuhause. Unter dem Mietvertrag wieder die Unterschrift meiner Mutter – noch zittriger und ungelenker.
Mir liegt der Grundriss vor, Milo: ein knapp 10 Quadratmeter großes Zimmer mit Kochnische, ein kleines Bad inklusive Toilette. Ein Wandschrank.
Beim Aktentransfer ist ein Fehler passiert. Zwar ist die Akte meiner Mutter beim Verwaltungsamt des 36 . Bezirks eingetroffen, meine aber nicht. Als man sie ein paar Jahre später anlässlich meiner Aufnahme im Zentralheim gesucht hat, fand man heraus, dass sie irrtümlich im Archiv einsortiert worden war. Mehr als drei Jahre lang hatte ich für die Verwaltung aufgehört zu existieren: Mein Name war aus allen erdenklichen Dateien und Listen verschwunden. Es wurden keine schriftlichen Erinnerungen an fällige Arztbesuche verschickt, es erging keine Aufforderung zur Einschulung. Ausgelöscht, vergessen, ohne legale Daseinsberechtigung. Alles schien darauf zuzulaufen, dass ich auch für meine Mutter aufhörte zu existieren.
Nach unserem Umzug in den 36 . Bezirk hat sie noch etwa zwei Monate im Anatolia gearbeitet. Keine Ahnung, wie sie das mit den Fahrzeiten hinbekommen hat – täglich vier bis fünf Stunden zu pendeln, das ist kein Spaß.
Sie hätte sich eine andere Arbeit suchen können, bei uns in der Nähe. Aber nein, sie wollte diesen Job behalten, so mies und schlecht bezahlt er auch war. Vielleicht fand sie es wohltuend, jeden Tag einen Bezirk anzusteuern, der nicht gar so weit von der Grenze entfernt war. So konnte sie besser damit leben, dass sie inzwischen in ein Dreckloch am äußersten Zonenrand verbannt war, ohne jede Aussicht auf eine Rückkehr.
Um arbeiten zu gehen, legte sie mich abends viel früher ins Bett als sonst. Das machte mir nichts aus, ich schlief immer
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