Die Ballade der Lila K
schnell ein. Tief und fest. Die Nacht verging wie im Flug. Wenn ich aufwachte, war sie immer da, schlafend neben mir. Es war wie früher, nur dass sie später wach wurde. An sie geschmiegt, wartete ich, ohne mich zu rühren, obwohl ich Hunger hatte und aufs Klo musste. Ich hatte große Angst, sie zu stören. Wenn meine Angst, ins Bett zu machen, noch größer wurde, stand ich schließlich doch auf. Ich trottete ins Bad. Hievte mich mühsam auf die Klobrille. Ich versuchte immer, ganz schnell fertig zu werden, wegen der Kacheln über dem Waschbecken. Diese vielen Einschläge inmitten der sternförmigen Risse, diese scharfen abgebrochenen Kanten – das zeugte von roher Gewalt und jagte mir eine Heidenangst ein.
Danach legte ich mich wieder zu ihr und wartete geduldig darauf, dass sie die Augen aufschlug. Wenn sie Stunden später aufwachte, gab sie mir etwas zu essen. Dann legten wir uns erneut hin, kuschelten uns aneinander und verharrten so, reglos, bis es Abend wurde. Bei ihr fühlte ich mich wohl. Ich wollte nichts anderes. Glauben Sie mir, Milo: Kein Kind hat von seiner Mutter mehr Wärme abbekommen als ich.
Der Bruch tritt Anfang Oktober ein: Sie schließt ihr Bankkonto und geht nicht mehr arbeiten. Ohne Bescheid zu geben, ohne Gründe zu nennen. Sie hört einfach auf. Am 6 . Oktober wird sie wegen Nichterscheinens am Arbeitsplatz entlassen. Angesichts der Fahrzeiten hätte sie es ohnehin nicht mehr lange durchhalten können.
Beim Arbeitsamt des 36 . Bezirks ist sie gar nicht erst vorstellig geworden. Mit ihrem Hintergrund – die Drogenprobleme, die beiden Entlassungen – hatte sie nicht die geringste Chance, auf regulärem Weg wieder Arbeit zu finden, das wusste sie. Also wollte sie es lieber auf eigene Faust versuchen.
Ich glaube nicht, dass sie aus einer plötzlichen Anwandlung heraus gehandelt hat. Vermutlich hat sie schon länger darüber nachgedacht, vielleicht sogar seit unserer Ankunft im 36 . Bezirk. Ihr letzter Kontoauszug weist für den September nur drei Einkäufe auf: ein rotes Kleid, ein blaues Kleid und ein Paar Overknee-Stiefel aus Vinyl. Sie wusste genau, worauf sie sich einließ, als sie ihre Arbeit im Anatolia aufgab. Sie hatte sich damit abgefunden.
Von November ’ 92 an führt meine Mutter eine Schattenexistenz, die bis zu ihrer Festnahme dauern wird. Für diesen Zeitraum gibt es keine Belege, weder Lohnabrechnungen noch Kontoauszüge, weder Arztberichte noch irgendwelche sozialen Leistungen. Sie verschwindet aus sämtlichen Verwaltungsdateien, schlüpft durch die Maschen der Volkszählung, erscheint nicht einmal mehr auf den Wählerlisten – offenbar kommt das in den Randbezirken häufiger vor. Genau wie ich hört sie für die Außenwelt auf zu existieren.
Ich sehe sie wieder vor mir, wie sie hektisch unsere ganzen Sachen aus dem Wandschrank räumt und in einen Karton stopft. Lächelnd dreht sie sich zu mir um.
»Wir werden dir darin ein Bett bereiten, meine Kleine. Ein hübsches Bettchen.«
Ich sehe sie staunend an.
»Mama muss das machen, wegen ihrer Arbeit.«
Sie schließt mich in die Arme, drückt mich und flüstert:
»Mama muss für ihr kleines Mädchen Geld verdienen. Verstehst du?«
Ich nicke. Sie lässt mich los und wirbelt weiter. Sie legt ein Kissen und eine Decke im Schrank aus, reiht meine Plüschtiere an der Rückwand auf.
»Hier wirst du dich richtig wohl fühlen«, sagt sie munter.
Die Nacht ist hereingebrochen. Sie hat sich frisiert, geschminkt. Sie trägt das rote Kleid, die hohen glänzenden Stiefel. Sie nimmt mich in den Arm, sie sieht wunderschön aus, sie hebt mich hoch und trägt mich zum Wandschrank, schiebt ihn mit der Fußspitze auf. Behutsam beugt sie sich vor und legt mich hinein.
»Streck dich aus, meine Kleine.«
Ich betrachte sie, fasziniert von ihrem sanften Blick, ihrem unergründlichen Lächeln. Als sie die Decke über mich breitet, spitzt sie den Mund; sie fängt an zu singen:
Summertime, and the livin’ is easy
Fish are jumpin’ and the cotton is high
Oh, your daddy’s rich and your ma is good-
lookin’
So hush little baby,
Don’t you cry …
Den Text verstehe ich zwar nicht, aber das Wesentliche: Alles ist gut, weil meine Mama mich liebhat. Ihre Stimme macht die Welt zu einem Hort der Geborgenheit. Mir wird nichts Böses geschehen.
»Schlaf jetzt. Du wirst jetzt schön schlafen, versprochen?«
Ich sage ja. Sie lächelt.
»Du bleibst so lange hier drin, bis ich dich raushole, einverstanden?«
Ich sage wieder ja. Sie
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