Die Ballade vom Fetzer: Historischer Roman (German Edition)
Boden.
Mathias wurde jetzt nur noch Fetzer genannt. Anfangs wehrte er sich gegen diesen Namen, doch für seine Männer war ›Fetzer‹ ein Begriff für Gefährlichkeit und Erfolg. Dann verlangte Mathias von den Gefährten, ›Fetzer‹ genannt zu werden. Wenn bei einem Raub die Bewohner des Gebäudes gefesselt und geschlagen am Boden lagen, vergaß Mathias nie, ihnen zu sagen, wer sie überfallen hatte. »Der Fetzer war hier!«, sagte er triumphierend. Er wollte, dass man Angst vor ihm hatte.
Gertrud war im vierten Monat schwanger. Mathias behandelte sie vorsichtig. Manchmal fuhr er sie an, weil sie sich zu rasch bewegte. Er fragte immer wieder: »Wann bewegt sich das Kind? Fühlst du, dass es lebt?« Gertrud beruhigte ihn dann. Sie empfand nichts für den fast kahlen, hässlichen, kleinen Mann. Aber er versorgte sie gut, schenkte ihr viel, und seit sie schwanger war, ließ er sie nachts in Ruhe. Gertrud war zufrieden, sie hatte es besser als im Bordell der Düwels Trück.
Mathias ließ sie allein im ›Schwan‹. Er hatte ihr versprochen, jede Woche einmal in die Neußer Furt zu kommen, und war mit Overtüsch und noch zwei Männern an die Maas gegangen. Doch auch hier erbeuteten sie gerade genug, um nicht hungern oder im Freien schlafen zu müssen.
Juni 1796
Am Donnerstag vor Pfingsten belauschte Mathias in Nettetal das Gespräch zweier Kaufleute. Sie unterhielten sich über den Eremiten bei Lobberich. »Der heilige Mann handelt neben Gebeten auch noch mit Zucker und Kaffee.« Mathias besprach sich mit seinen drei Männern. Die kleine Bande beschloss, diesen Einsiedler in der folgenden Nacht zu besuchen.
Am nächsten Tag zogen sie nach Lobberich. In der Abenddämmerung stahlen sie eine Leiter und schlichen zur Klause des Eremiten. Mathias gab ein Zeichen. Die Männer kauerten sich hinter die hohen Stechpalmensträucher, die um das Haus standen. Die Nacht war schwül, und ganz entfernt rollte Donner. Aus dem Fenster fiel Licht auf den Weg. Gegen die Wolken erkannten die vier einen schmalen Glockenturm auf dem Giebel der Klause. Mathias stieß einen seiner Leute an. »Los, aufs Dach, schneid den Glockenstrick ab! Wenn du Lärm machst, schieß ich dich ab wie ne Taube.«
Der Mann lehnte die Leiter an die Hauswand, stieg auf das Dach und schnitt das Seil durch. Er verknotete den Strick an einem Balken im Türmchen.
Die Banditen schlichen zur Tür. Sie packten die Leiter bei den Sprossen, Overtüsch pfiff, die Männer rannten gegen die Tür. Im Haus blieb es still. Beim zweiten Aufprall splitterte das Holz. Die Männer warfen die Leiter ab. Mit dem Brecheisen in der rechten, die Pistole in der linken Hand stürmte Mathias in den Wohn- raum, hinter ihm Overtüsch und die beiden anderen. Starr standen sechs Männer dicht beieinander in einer Zimmerecke neben dem Harmonium. Sie hielten Knüppel und Mistgabeln in den Händen. Mathias schrie: »Waffen weg, oder ich bring euch um!« Die Mistgabeln und Knüppel polterten auf den Boden.
»Wo ist der Mönch?« Der Einsiedler sei auf einer Geschäftsreise in Holland, stotterte einer. Sie sollten hier aufpassen. Mathias ließ sich zeigen, wo der Eremit Stricke aufbewahrte. »Fesselt sie!«, befahl er seinen Helfern. Er selbst durchsuchte mit Overtüsch das ganze Haus. Sie fanden weder Geld noch Kirchensilber, nur Säcke mit Kaffee und Zucker. Die Speisekammer war gut gefüllt mit Speck, Schinken, Obst und Wein. Augustin Overtüsch fluchte: »Fetzer, wir haben nur noch Pech! Komm, wir schließen uns wieder den Krefeldern an, du hast kein Glück mehr!«
Mathias erwiderte nichts.
In der Wohnstube hatten die beiden anderen die sechs Wächter fest verschnürt, geknebelt und ihnen die Augen verbunden. Mathias sagte leise: »Hier gibt’s nichts zu holen.« Die Kameraden fluchten. Sie gaben ihm die Schuld an dem Misserfolg. Er fürchtete sich vor dem Verlust der Bewunderung. »Egal, wir überfallen einfach noch ein anderes Haus.« Er versuchte, zuversichtlich zu lachen.
Overtüsch sah ihn verächtlich an. »Welches Haus denn? Du weißt doch gar keins!« Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht.
Die Männer starrten sich an. Die Schwüle hatte zugenommen. Plötzlich heulte der Wind um das Haus. Es blitzte grell, und nach einem knallenden Donnerschlag setzte ein Wolkenbruch ein. Der Regen peitschte hart an die Fenster. »Wir können noch nicht weg!«, schrie Mathias den anderen zu. Es blitzte und krachte fast gleichzeitig. »Wir bleiben hier, bis das Gewitter vorbei
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