Die Ballonfahrerin des Königs
mit ihren Köpfen unter dem Arm herum?», fragte der
weiß und rot geschminkte Monsieur de Vezon Marie-Provence spöttisch. Er nahm gegenüber von Marie-Provence neben seiner Frau
Platz, auf einer der Holzkisten, die ihnen als Sitzgelegenheiten dienten.
Tante Bérénice setzte sich zur Rechten ihrer Nichte und begann augenblicklich, das Besteck nach einer nur ihr bekannten Regel
herumzuschieben. Sie war eine Frau, die Perfektion liebte, doch die Beschränkung auf die wenigen Einrichtungsgegenstände des
Schlosses hatte ihren Ordnungssinn zur Manie werden lassen. Marie-Provence hatte versucht, dem beizukommen, und tante Bérénice
ein Patience-Spiel mitgebracht. Die Tante hatte daraufhin zwar keine einzige Patience gelegt, doch sie verbrachte ihre Nachmittage
damit, mit den kleinen Karten bunte, phantasievolle Muster zu entwerfen. Seitdem wirkte sie etwas ausgeglichener.
Der Händler Clément nahm seinen Platz zu Marie-Provence’ |42| Linken ein. «Sie haben noch nicht geantwortet, ma chère. Allons, erzählen Sie schon. Sie wissen, wie sehr wir nach Neuigkeiten
lechzen.»
Marie-Provence rückte ein wenig von ihm ab. «Nun, demnächst werde ich Ihnen allen öfters etwas erzählen können.» Sie sah in
die Runde. «Ich habe nämlich eine Stelle im Waisenhaus angenommen.»
Sofort prasselten Fragen auf sie ein.
«Warum denn, um alles in der Welt?»
«Ist das nicht viel zu gefährlich?»
«Mein Gott, Sie wollen den ganzen Tag unter diesen schrecklichen Menschen verbringen?»
«Ich habe mich dazu entschlossen, weil unsere finanziellen Mittel allmählich zur Neige gehen. Wir haben vorige Woche die letzte
Perlenkette verkauft, es ist kaum noch Schmuck da. Und der Lohn in der maison de la couche ist überraschend gut», erklärte
Marie-Provence.
«Und wenn Sie gefasst werden?», entrüstete sich der Händler Clément. «Sie gefährden uns alle!»
Marie-Provence antwortete kühl. «Monsieur, es ist an erster Stelle mein Leben, das ich in Gefahr bringe. Ich bin gerne bereit,
auf dieses Abenteuer zu verzichten, wenn Sie finanziell für unser aller Unterhalt sorgen möchten.»
Clément warf ihr einen giftigen Blick zu, antwortete aber nicht. Er war der Einzige der Gruppe, der gänzlich ohne Geld in
Maisons angekommen war. Sein Unterhalt wurde von der Gemeinschaft getragen. Jeder am Tisch wusste es, doch das Taktgefühl
verbot es üblicherweise, diesen Umstand zu erwähnen.
Ihre Tante zuckte zusammen. «Ma nièce, allons!»
«Lassen Sie nur, ma chère, lassen Sie!», winkte Clément ab. «Es ist erschütternd, doch unausweichlich, dass der Kontakt zur
Außenwelt seine Spuren hinterlässt. Sie können sich anhand der Reaktion von Mademoiselle Ihrer Nichte vorstellen, wie es da
draußen hergehen mag!»
«Die Verrohung der Sitten, die Barbarei! Schrecklich …», hauchte Madame de Vezon.
|43| «Kind, eine Serdaine arbeitet doch nicht! Was würden Ihre Eltern dazu sagen?», fiel tante Bérénice ein.
Marie-Provence lächelte und schwieg. Sie schluckte die Frage hinunter, wie ihre Tante das wohl nennen würde, was sie tagein,
tagaus trieb, um die kleine Gemeinschaft zu versorgen: die Einkäufe auf dem Markt, das Holzsammeln im Wald, das ewige Schleppen
durch die unterirdischen Gänge.
«Und hier kommt die Suppe!» Ernestine schlurfte bedächtig herbei, einen Teller in jeder Hand balancierend.
Clément verzog das Gesicht. «Schon wieder lauwarme Brühe!»
Marie-Provence musste eingestehen, dass die abendlichen Mahlzeiten wenig appetitfördernd waren. Ernestine machte stets Suppe,
denn die weichgekochten Einlagen waren das Einzige, was ihr zahnloser Mund noch beißen konnte, und sie war zu alt und müde,
um für sich eine zusätzliche Mahlzeit zu bereiten.
«Vielleicht sollten wir es in Erwägung ziehen, in der Küche zu essen», überlegte Marie-Provence laut. «Dann hätte Ernestine
nicht so viel zu laufen, und das Essen bliebe wärmer.»
«Im Keller? Bei den Dienstboten?» Madame de Vezon stieß einen kleinen Schrei der Entrüstung aus. «Aber meine Liebe, vous n’y
pensez pas, das ist absolut undenkbar!»
Marie-Provence bestand nicht auf ihren Vorschlag. Schließlich hatte die Aufteilung der vielen Räume des Schlosses bisher zu
einem Ergebnis geführt, das alle zufriedenstellte. Ernestine hatte ihre Kammer unter dem riesigen Dach, alle anderen schliefen
in der ersten Etage. Das Erdgeschoss hielt für Spiel, Essen, Lesen und Beten her – bis auf den Samstag, an
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