Die Ballonfahrerin des Königs
Jomart
gemahnt.
Doch trotz der erleichterten Haftbedingungen verbrachte Charles lange Stunden auf seinem Bett. Seine Teilnahmslosigkeit, noch
Wochen nachdem seine Zelle geöffnet worden war, war erschreckend. Wenn Marie-Provence an den quirligen Jungen dachte, der
Charles früher einmal gewesen war, an seine nie gestillte Neugier und seine Lebenslust, war ihr nur allzu klar, dass er unter
den jetzigen Umständen, sich selbst und ewigen Stunden des Nichtstuns überlassen, nie würde gesunden können.
Bei dem Gedanken an die Wochen, die noch vor ihnen lagen, wurde ihr bang ums Herz. Inzwischen war es März, und es würde mindestens
Mai, wenn nicht gar Juni oder Juli werden, bis der Ballon endlich fertig sein würde – auch aus Geldgründen.
Die Finanzierung verlief schleppend. Nicht dass es an Interessenten gemangelt hätte, die meisten Menschen hatten einfach kein
Geld übrig, konnten häufig nicht einmal das kaufen, was sie zum Überleben benötigten. Die Märkte waren leer, nicht nur in
Paris, auch in Lyon und in der Provinz. Aus Angst, mit den fast wertlosen Assignaten bezahlt zu werden, lieferten die Bauern
nicht mehr. Ein harter Winter und |347| eine schlechte Ernte kamen erschwerend hinzu. Mittlerweile mangelte es selbst an Kohle und Holz.
Überdies verschlang die Herstellung eines Ballons mehr Geld, als Marie-Provence jemals für möglich gehalten hätte. Ihre letzte
Hoffnung war eine Zuwendung von Barras, der vielleicht Thérésia zuliebe noch ein paar Gelder lockermachen würde. Allerdings
hatte Thérésia im Moment ganz anderes im Kopf: Sie erwartete im Mai ihr erstes Kind und hatte, um einen Skandal zu vermeiden,
im Dezember den Geliebten Tallien geheiratet. Ihre Popularität wuchs ständig, und ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen,
zu denen sich die Beanspruchungen durch die Schwangerschaft gesellten, ließen ihr kaum eine Minute Zeit.
Marie-Provence seufzte lautlos, rief sich dann aber zur Ordnung. Charles bekam so selten menschliche Zuwendung zu spüren –
wenn sie bei ihm war, wollte sie sich nicht von ihren Sorgen ablenken lassen, sondern ganz bei ihm sein. Sie tunkte ein sauberes
Leintuch ins Kamillenbad und legte es um Charles rechte Wade. Das Kind zuckte, sagte aber kein Wort.
Charles hatte wunde Stellen vom Liegen, die einfach nicht heilen wollten. Immerhin: Die Krusten auf seiner Kopfhaut und an
seinem Nacken, die sich wegen der mangelnden Hygiene während seiner Haft gebildet hatten, waren nun fast vollständig verschwunden.
Da auch seine blonden Haare einen ordentlichen Schnitt erhalten hatten, machte Charles jetzt einen gepflegten Eindruck.
«Setzen Sie sich bitte auf», bat Jomart, nachdem die Wunden versorgt waren.
Charles gehorchte. Er ließ den Arzt die Knoten untersuchen, die an seinen Handgelenken, seinen Arm- und Kniebeugen gewachsen
waren.
«Haben Sie Schmerzen?», fragte der Arzt.
Charles antwortete nicht.
«Sehen Sie mich bitte an.» Der Junge gehorchte, und Jomart fragte weiter: «Verstehen Sie mich? Sie brauchen nicht zu antworten,
wenn Sie es nicht wollen. Ein Nicken reicht.»
|348| Charles sah Jomart unumwunden und reglos an.
Der Arzt senkte seufzend den Kopf und stand auf. Seine Bewegungen waren schwerfällig. Marie-Provence wusste, wie sehr er sich
eine Antwort seines Patienten gewünscht hätte.
«Er vertraut mir nicht, Marie-Provence! Obwohl wir ihn jetzt seit Monaten pflegen, ist er so misstrauisch wie am ersten Tag»,
hatte Jomart noch gestern bitter ausgestoßen. «Dieser Junge wurde zu lange beschimpft und betrogen. Er bringt es aus reinem
Selbstschutz nicht mehr über sich, sich irgendjemandem gegenüber zu öffnen. Doch wenn ich keinen Zugang zu ihm finde, werde
ich ihm nicht helfen können!»
Marie-Provence packte die Arzttasche, während Jomart in den Vorraum ging, um sich die Hände zu waschen. Einen Augenblick lang
waren Gomin und Marie-Provence allein beim Patienten. Marie-Provence warf dem Wärter einen Seitenblick zu. «Ich danke dir.
Wegen der Blumen, vorhin.»
Gomin wehrte ab. «Es ist nicht der Rede wert.»
«Aber doch. Dein Handeln zeugt von einem guten Herzen. Und Gutes ist es immer wert, dass man darüber spricht», widersprach
Marie-Provence.
Gomin deutete auf Charles. «Er tut mir leid, das ist alles.»
«Er bräuchte dir nicht leidzutun, wenn du ihn besser behandeln würdest», entfuhr es Marie-Provence.
Gomins gutmütiges Gesicht rötete sich.
Doch Marie-Provence hatte nicht vor,
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