Die Ballonfahrerin des Königs
ihn zu schonen. Sie brauchte ihn nämlich als Helfer. Gomins Präsenz im donjon war einem
raffinierten Winkelzug der royalistischen Untergrundorganisation zu verdanken, von dem niemand etwas ahnte, am wenigsten der
arglose und königsfreundliche Gomin selbst. Einige republikanisch-patriotische Einzelheiten, die in Gomins Akte geschmuggelt
worden waren, hatten seine Ernennung bewirkt. Gomin hatte nichts von einem Abenteurer, und Marie-Provence wollte den Mann
auch gar nicht zu einer Heldentat überreden. Trotzdem hoffte sie, dass sie ihn dazu bringen könnte, sie in einem wichtigen |349| Punkt zu unterstützen. Ihr Plan wies nämlich einen heiklen Punkt auf: Er verlangte, dass sich das Kind zu einer gewissen Uhrzeit
auf dem Turm befand, um von dem Ballon abgeholt werden zu können. Zufällige Spaziergänge nützten ihnen nichts. Sie brauchten
Regelmäßigkeit. Die galt es nun sicherzustellen.
«Ich weiß sehr wohl, dass es nicht in deiner Macht steht, Monsieur Charles zu befreien. Freilich gibt es einiges, womit du
sein Leben hier erträglicher machen könntest», meinte Marie-Provence. Sie ließ das Schloss der Arzttasche zuklappen. «Kleinigkeiten
würden schon reichen: ein Päckchen Spielkarten, zum Beispiel. Oder ein regelmäßiger Gang an die frische Luft.» Sie zuckte
die Schultern. «Was er braucht, ist eine neue Sicherheit, etwas, worauf er sich freuen kann. Wie zum Beispiel die Gewissheit,
jeden Tag einmal unter freiem Himmel stehen zu können.»
Gomin streckte beide Hände abwehrend von sich. «Jeden Tag? Du weißt nicht, wovon du sprichst, citoyenne! Für die Herren der
Regierung kommt jede Bitte für eine Erleichterung der Haftbedingungen einem Verrat gleich!»
Marie-Provence antwortete nicht. Sie wusste, dass sie behutsam vorgehen musste. Noch hatte sie genügend Zeit, um Gomin Mut
zu machen und dorthin zu führen, wo sie ihn haben wollte.
Sie ergriff Charles’ magere Hand und drückte sie verstohlen zum Abschied. Dann stand sie auf, um zu gehen.
Gomin, den offensichtlich sein schlechtes Gewissen plagte, kam ihr nach. «Außerdem wäre das doch alles zwecklos», führte er
seine Argumentation fort. Er deutete auf das Lager. «Schau ihn dir doch an! Bei Gott, dieser Junge ist nichts mehr als ein
verkümmerter Körper. Sein Geist hat diese Mauern schon längst verlassen.»
Marie-Provence hatte bereits eine heftige Antwort auf den Lippen, da packte Gomin plötzlich ihren Arm. Sie spürte schmerzhaft
seinen Griff, als er sie zwang, sich halb um die eigene Achse zu drehen. Er deutete in eine Richtung.
Sofort verstand sie, was er meinte.
|350| Charles war aufgestanden. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen. Marie-Provence und Gomin verfolgten, wie der Junge zu
dem Fenster strebte, auf dessen Sims die vier Tontöpfchen standen. Er streckte die Hand aus. Zum ersten Mal, seit Marie-Provence
Charles wiedergesehen hatte, gerieten die Züge des Jungen in Bewegung.
Er drehte sich ihr zu. «Marie!»
Es war wie ein Dammbruch in ihrem Inneren. So lange hatte sie sich geduldet. Doch jetzt vergaß Marie-Provence alle Überlegungen,
alle Pläne und Ängste. Sie flog auf ihn zu, riss ihn in die Arme und presste ihn an sich. Sie wiegte und liebkoste das von
Weinkrämpfen geschüttelte Kind, summte eine alte Melodie an sein Ohr.
Auch Jomart rannte herbei. Hinter ihm zwei Wachen, die Bajonette in der Hand. Gegen wen wollten sie kämpfen? Oder gegen was?
Die Soldaten starrten sie an, überrascht, überfordert, doch zu allem bereit, und als sie die Piken gegen sie und das Kind
senkten, sackte Angst kalt und schwer auf Marie-Provence’ Schultern.
«Was ist denn hier los?» Ein weiterer Mann stürmte in den Raum, in Zivil gekleidet, wahrscheinlich der Repräsentant der commune.
«Wie kommst du dazu, Charles Capet anzufassen? Lass sofort das Kind los!»
Jomart gestikulierte heftig. Marie-Provence verstand, was er ihr sagen wollte, doch nichts auf der Welt würde sie zwingen,
sich jetzt von dem Kind zu trennen. Stattdessen starrte sie feindselig die vier Männer an, forderte sie geradezu heraus. Wichtig
war nicht, ob sie stark war – sondern ob diese Männer es glaubten. Ihr war klar, in den Augen des Arztes hatte sie versagt,
auch alle anderen, die seit Wochen und Monaten ihr Leben aufs Spiel setzten, um in aller Stille an Charles’ Befreiung zu arbeiten,
würden sie eine Versagerin schimpfen. Aber sie spürte mit jeder Faser ihres Wesens, dass es nichts
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