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Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Douglas
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einer Stunde kommen soll.»
    Gomin überhörte ihn. «Willst du die Töpfe selbst ins Zimmer bringen?», schlug er Marie-Provence vor und deutete auf Charles’
     Zelle.
    Marie-Provence ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie hatte kaum zu hoffen gewagt, dass Charles ihr kleines Mitbringsel zu
     Gesicht bekommen würde. Sie schenkte Gomin ein strahlendes Lächeln. Er hatte schon immer einen wohlwollenden, freundlichen
     Eindruck auf sie gemacht, doch es war das erste Mal, dass er sich für sie einsetzte.
    Gomin wies den Soldaten an, die Zelle zu öffnen. Da Laurent, der zweite Aufpasser, Ausgang hatte, war es allein Gomin, der
     den Arzt und Marie-Provence während ihrer Visite begleitete.
    «Guten Morgen, Monsieur Charles», grüßte Jomart das Kind, als er eintrat.
    Wie so oft lag Charles auf dem Bett. Er hob ein wenig den Kopf, wandte sich aber kurz darauf unbeteiligt von den Besuchern
     ab.
    «Nun, wie geht es Ihnen heute, junger Mann?», murmelte der Arzt, während er sich auf dem Rand des Lagers niederließ.
    Marie-Provence sah sich kurz um. Wie immer waberte der faulige Geruch im Raum, dem durch Lüften nicht beizukommen war. Selbst
     die Schwaden der Kräuter- und Rindenmischung, die Jomart regelmäßig verbrennen ließ, waren gegen den Gestank machtlos, der
     sich unwiderruflich in den Steinfugen und dem Holz festgesetzt zu haben schien. Er rief Übelkeit in Marie-Provence hervor.
     Wie so viele Male zuvor drängte sich ihr die Gewissheit auf, dass kein Mensch auf der Welt in einer solchen Luft genesen konnte.
    |345| Sie stellte die vier Tontöpfchen auf dem Fenstersims ab, der lichtesten Stelle im Raum, seit ein Teil der Läden entfernt worden
     waren. Marie-Provence hatte sich lange überlegt, welche Blumen sie Charles bringen könnte, um dessen Gleichgültigkeit zu durchdringen.
     Als heute Morgen ihr Blick auf die frühlingshafte Wildnis gefallen war, die den Hof der alten Schmiede eroberte, war sie einer
     Eingebung gefolgt.
    Gänseblümchen   … Sie und er, Hand in Hand, über die Wiesen des Parks vom Trianon tollend. Halme, die zwischen den bloßen Zehen kitzelten.
     Der Duft von zertretenem Gras. Das Kind streckt vor Anstrengung die Zunge raus, beugt sich über das wuchernde Grün. Triumph.
Marie! Marie, schau mal! Ich kann Gänseblümchen mit den Zehen pflücken!
Das Kind hüpft auf einem Bein, versucht, ihr die Blümchen hinzustrecken und gleichzeitig eine höfische Verbeugung zu machen.
Für dich!
Es lacht, plumpst auf seine Kehrseite. Sie wirft sich, ebenfalls lachend, daneben. Kitzelt es, bis es um Gnade fleht.
    Die kleinen weißen Sterne mit den sonnengelben Herzen auf dem Fenstersims gerieten in einen Lichtstrahl. Sie leuchteten aufdringlich
     auf. Marie-Provence wurde unruhig. Verunsichert sah sie sich nach Charles um. Sie selbst ertrug diese Erinnerungen nur schwer.
     Wie würde er reagieren? Was, wenn die Blumen in ihm eine Sehnsucht erweckten, die seine letzten Kräfte verzehrten?
    Inzwischen hatte Jomart eine Schüssel mit lauwarmem Kamillenbad vorbereitet, mit dem die entzündeten Hautstellen des Kindes
     behandelt wurden. Marie-Provence trat hinzu, um ihrer Arbeit als Assistentin nachzukommen. Gomin stand ein paar Schritte abseits,
     während sie und Jomart versuchten, die Wunden auf dem apathischen Kinderkörper zu lindern, und beobachtete sie. Wie schon
     oft zuvor überraschte Marie-Provence der Ausdruck des Mitleids auf dem Gesicht des knapp vierzigjährigen Mannes. Sie ahnte,
     was Gomin durch den Kopf ging. Selbst sie, die Charles inzwischen Dutzende von Malen gesehen und berührt hatte, hatte sich
     noch nicht an den Anblick gewöhnt.
    |346| Als sie letztes Jahr das Kind durch die Gitter der Tür angeschaut hatte, war es ihr kaum größer als in ihrer Erinnerung erschienen.
     Doch dieser Eindruck war falsch gewesen. Charles hatte sich sehr wohl entwickelt – allerdings nicht gleichmäßig. Hals, Beine,
     Arme und Finger hatten sich gestreckt, waren lang und spindeldürr. Im Vergleich dazu mutete der Kopf zu groß an. Der überproportional
     gewölbte Brustkorb, mit schmalen Schultern und von einer durchscheinenden Haut überzogen, unter der sich die Rippen abzeichneten,
     wirkte wie ein großes, nicht passendes Puzzleteil. Er kam einem irgendwie gestaucht vor – eine Folge, wie Jomart ihr erklärt
     hatte, der sich im Abbau befindlichen Rückenmuskulatur.
    «Das Kind muss sich unbedingt bewegen. Wir müssen es dazu bringen, aufzustehen, Anstrengungen zu unternehmen», hatte

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