Die Ballonfahrerin des Königs
Freilassung reagieren? Ihr Vater und die anderen wollten das Kind, kaum dass es aus dem Gefängnis entkommen war,
als Galionsfigur an die Spitze von Condés Truppen setzen. Ein Vorhaben, das, wie sie befürchtete, zur Katastrophe führen konnte.
Denn Cortey und die anderen hatten Charles nicht gesehen. Sie konnten seinen Zustand nicht so beurteilen wie sie selbst. Doch
wenn sie dem Kind erst einmal begegnet waren, würden sie einsehen, dass sie ihre Pläne ändern mussten. Sie würden Charles
Zeit geben, sich auszukurieren und in seine Aufgaben hineinzuwachsen.
Ja, das Wichtigste war erst einmal, das Kind aus dem donjon zu holen. Alles andere würde sich schon ergeben.
Zwei warme Hände legten sich auf ihre Schultern.
«Wie geht es dem Kind?»
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Manchmal war ihr Andrés Fähigkeit, ihre Gedanken zu erraten, fast unheimlich.
|340| André drehte sie um und fragte ernst: «Du warst heute im donjon, nicht wahr?»
Marie-Provence mied seinen Blick. «Charles gibt sich unverändert stumm.» Langsam löste sie sich aus seiner Umarmung. «Laurent
ist ein zweiter Aufpasser zur Seite gestellt worden, ein gewisser Gomin. Laurent hatte darum gebeten, um ein wenig von der
schweren Bürde der Aufsicht entlastet zu werden und auch mal den donjon verlassen zu können. So sind es jetzt zusammen mit
dem täglich wechselnden Repräsentanten der commune drei Männer, die das Kind umsorgen.» Sie steckte einen Finger in das gerade
entstandene Loch im Fass. «Was soll da rein?», lenkte sie ab.
«Eisenspäne, Schwefelsäure und Wasser.»
«Und das zweite Loch?»
«Daraus entweicht der entstandene Wasserstoff. Das Wasser soll das entstandene Gas vom Schwefeldioxid reinigen, das sonst
als ätzender Dampf die Innenfläche des Ballons beschädigen würde.»
Jetzt war er wieder ganz in seinem Element, und Marie-Provence fragte weiter, um ihn vom Thema des Kindes abzulenken: «Wie
viele solcher Fässer werden wir benötigen, um genug Wasserstoff herzustellen?»
«Nun, ein Ballon, der zwei Personen heben soll, muss zwischen acht und neun Meter Durchmesser haben. Fünfundzwanzig solcher
Fässer werden wir mindestens brauchen, um ihn zu füllen.» Er winkte ihr zu. «Aber jetzt komm, ich muss dir etwas zeigen.»
Marie-Provence war nur allzu bereit, ihren Gedanken zu entfliehen. Als sie mit André Hand in Hand den Hof überquerte, stutzte
er. «Solltest du nicht die Befüllung der Sandsäcke beaufsichtigen?», warf er der hageren Gestalt zu, die am Ochsenwagen lehnte
und unter die Abdeckung lugte.
«Doch, natürlich.» Ignace Moulin legte die Plane zurück. «Es gab nur eine Frage wegen der Qualität der Lieferung, die ich
klären musste.»
«Das hast nicht du zu entscheiden. Um solche Fragen kümmere ausschließlich ich mich.»
|341| «Wie du willst, citoyen.» Moulin zuckte mit den Schultern. «Ich bin nur froh, wenn mir was abgenommen wird.»
André sah dem Angestellten argwöhnisch nach, während dieser davonstelzte, lächelte dann aber Marie-Provence zu. «Komm!»
Er führte sie in einen der Lagerräume. In der ehemaligen Schmiede hatte sich etliches getan: Die Räume waren umgebaut und
gesäubert, Wände entfernt, andere hochgezogen, der Ofen neu gemauert worden. Zwei kleine Räume hatte André zu seiner neuen
Wohnung auserkoren. Nach einer langen Phase der Planung begann nun die Ausführung, und erste Materialien stapelten sich bereits
in den Lagerräumen.
Als Marie-Provence die Ballen sah, die sich in einer Ecke stapelten, stieß sie einen Freudenschrei aus. «Die Seide!»
Andrés Lächeln wurde breiter. «Sie ist angekommen, während du nicht da warst.»
Mehrere Ballen waren bereits von ihren schützenden Hüllen befreit worden, und Marie-Provence konnte nicht widerstehen, ein
paar Meter von dem Stoff abzuwickeln. Ein Sonnenstrahl, der durch ein Fenster des Lagerraumes fiel, brachte ihn zum Leuchten.
«Schau, der hier ist weiß. Wie schön er schimmert! Wie frischgefallener Schnee. Hier ist das Rot. Und hier …» Der Ballen entglitt ihr, der Stoff entrollte sich in einem blauschimmernden Strom über den Boden. Marie-Provence riss den
Stoff hoch, sodass er sich über ihr in der klirrend kalten Luft bauschte, lachte, als das seidigglatte Gewebe auf sie herabschwebte,
raffte es um sich und schmiegte ihr Gesicht daran.
Blau, weiß und rot, wie von Barras verordnet. Gab es eine größere Ironie, als Louis-Charles von einem Ballon in den Farben
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