Die Ballonfahrerin des Königs
«Ja.»
Staunend ließ sie ihren Blick über den Giganten wandern, dessen gleißende Hülle ihr die Tränen in die Augen trieb. «Wie schön
er ist!» Schön wie ein Traum. Makellos, sanft gerundet und überwältigend groß spannten sich die Flanken des Riesen über ihr.
Auf ihnen prangte in geschwungenen Buchstaben der Name, auf den André den Ballon hatte taufen lassen:
L’Intrépide
– der Furchtlose.
Ja, plötzlich war alles fertig – schneller, als sie es noch vor kurzem für möglich gehalten hätte. Nachdem ihre finanzielle
Lage sich so unvermutet gebessert hatte, hatten sie weiteres Personal anstellen können. Auf eine Hilfe hatten sie allerdings
verzichten müssen: Ignace Moulin war spurlos verschwunden. Marie-Provence hatte ihm keine Träne nachgeweint.
Vor ein paar Tagen waren die Anzeigen gedruckt worden, die den Abflug für morgen ankündigten, falls das Wetter sich dafür
anbot. Den halbgefüllten Ballon hatten sie bereits mit großer Vorsicht zum Abflugplatz geschleppt. Erst dort hatten sie das
restliche Gas eingeführt und den Korb angebracht. Diesem war eine rechteckige Form gegeben worden. Eiserne Verstrebungen verstärkten
ihn, angesichts des bevorstehenden Experimentes, das eine besondere Stabilität des Geflechtes verlangte: Er musste das Gewicht
des Fallschirms und des Springers tragen.
«Auch du, Marie», sagte André und betrachtete sie ernst, «auch du bist so weit. Ich habe dir alles beigebracht, was du |368| benötigst. Alles andere musst du erspüren.» Er senkte den Kopf, strich über den Korbrand. Ein Muskel zuckte auf seiner Wange,
als er wie nebenbei fragte: «Bist du immer noch sicher, dass du den Ballon morgen alleine landen willst? Lass dich nicht von
den Plakaten beeinflussen, die in der Stadt hängen. Wir können den Abflug verschieben und jemand anderen suchen, der deine
Rolle als Marianne übernimmt.»
Bevor sie sich zur Ordnung rufen konnte, glitt ihr Blick zum nahen donjon, der vierschrötig hinter seiner Mauer lauerte. Die
Sonne brachte seine spitzen Schieferdächer zum Glühen. «Nein. Ich will morgen fliegen.»
«Ist es wegen dem Kleinen? Wegen Louis-Charles?»
Marie-Provence glaubte, ihr Herz würde für immer stehenbleiben. Wortlos starrte sie ihren Geliebten an, der sie warm fragte:
«Weshalb hast du es mir nicht erzählt? Warum hast du mir nie gesagt, dass du es für ihn tun willst? Hattest du Angst, ich
würde dich daran hindern wollen?»
Marie-Provence benetzte ihre Lippen, und sie krächzte: «Ich – woher weißt du …?»
«Was ist denn daran schwer zu verstehen? Glaubst du, ich habe vergessen, was du mir damals während unseres Streits über dich
und den Jungen gesagt hast? Lieferst du nicht ständig Beweise eurer Verbundenheit? Alle zwei Tage steigst du mit Jomart in
diesen Turm, um das Kind zu besuchen und ihm wieder etwas Leben einzuhauchen. Du gräbst Blumen aus, um sie ihm zu bringen,
hoffst ständig auf eine Verbesserung seines Zustandes und verzweifelst an seiner Gleichgültigkeit.» Er griff nach ihren Händen,
drückte sie. «Ein Ballonaufstieg direkt vor seinen Augen! Und du, die du ihm vom Korb aus zuwinkst. Marie, das ist eine grandiose
Idee! Ich bin überzeugt, dass du einen Weg gefunden hast, um ihn aus seiner Versenkung zu holen!»
«Winken?», fragte Marie-Provence dümmlich. Sie stützte sich am Korb ab. «Meinst du wirklich», stotterte sie, «dass ihm das
helfen wird?»
André schloss sie in die Arme. «Ich wünsche es mir. Für dich und für ihn.»
|369| Marie-Provence nickte und fühlte, wie sie feuchte Augen bekam. Sie strich über das Revers seiner Jacke. «Komm, wir gehen nach
Hause», sagte sie leise. «Wer weiß schon, was der morgige Tag bringt? Lass uns die nächsten Stunden wie ein Fest begehen.»
Die alte Schmiede lag jetzt verlassen da. André zog die großen Flügel des Hauptgebäudes zu und verriegelte sie. Auf die Stillleben
der Materialreste, die überall herumlagen, ließen sie die Kleidungsstücke fallen, die sie sich nach und nach gegenseitig vom
Leib streiften. Sie waren nackt, noch bevor sie das Schlafzimmer erreichten. Auf der Schwelle hob André Marie-Provence hoch
und trug sie auf das Lager. Dort liebten sie sich, zärtlich und behutsam wie beim ersten Mal.
Das Bewusstsein der Vergänglichkeit ließ Marie-Provence jeden Augenblick mit noch nie erlebter Innigkeit wahrnehmen. Seit
Wochen und Monaten wartete sie auf den morgigen Tag. Ihre Anspannung
Weitere Kostenlose Bücher