Die Ballonfahrerin des Königs
hatte sie in der letzten Zeit kaum noch Schlaf finden
lassen – jetzt aber hätte sie die Uhr anhalten, die Minuten, die von den Stunden abfielen, aufsammeln und wieder aneinanderreihen
wollen.
Inzwischen war es Abend geworden. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages drangen zwischen den offenen Fensterflügeln hindurch
und ergossen sich über die dunklen Deckenbalken, färbten die getünchten Wände rot. Eine Nachtigall schlug an und übertönte
das Summen der verspäteten Hummeln, die noch berauscht durch die duftenden Blüten taumelten.
Sie standen auf, holten sich Wein und teilten sich zum Abendessen Brot, Käse und ein paar Erdbeeren. Sie sprachen nicht viel,
doch immer wieder trafen sich ihre Blicke, und ihre Hände suchten einander. Marie-Provence spürte auch Andrés Anspannung.
Er lächelte nicht, als er sie erneut zum Lager zog.
Bis tief in die Nacht wälzten sie sich in den Laken, als wollten sie das Schicksal mit der Heftigkeit ihrer Leidenschaft |370| beschwören. Ihre Angst umeinander versuchten sie, mit dem Körper des anderen zu betäuben, bis sie, am Ende ihrer Kräfte, in
einen erschöpften Schlaf fielen.
***
«Der Ballonflug findet also statt.» Es war eine Feststellung, keine Anklage, und es klang kaum Bitterkeit in Cédric Croutignacs
Stimme mit. Er hatte in den letzten Wochen oft genug die Borniertheit der republikanischen Behörden verdammt. Dafür war jetzt
keine Zeit mehr.
Corbeau schüttelte den Kopf. «Es war nichts mehr zu machen. Das Mädchen hat mich gesehen, als ich die Flamme neben dem Ballon
abstellte. Damit war es mir unmöglich geworden, weiterhin als Ignace Moulin aufzutreten. Und seit dem Sabotageakt wurde das
Gelände zu gut bewacht, um einen zweiten Anschlag zu wagen.»
«Ja, und Barras, dieser Trottel, ist zu verliebt, um sein Gehirn zu gebrauchen.» Cédric sah Corbeau an. «Du weißt, was das
heißt: Ich selbst kann mich im Temple nicht mehr blicken lassen. Jeder kennt mich dort und weiß, dass ich dort nichts mehr
zu suchen habe. Aber du …»
Corbeau nickte. «Ich kann jederzeit wieder meinen Wachdienst im Temple übernehmen, hat capitaine Zeller mir gesagt, als ich
vor ein paar Monaten kündigte. Ein paar Münzen, und ich stehe morgen im Turm.»
«Mach das.» Cédric machte ein paar unruhige Schritte. «Ich weiß nicht, wie sie es schaffen will, aber sie wird morgen versuchen,
Charles Capet zu befreien. Sie kann nicht in den donjon rein und seine Zelle stürmen, dafür ist sie zu gut bewacht. Sie kann
nur versuchen, mit Hilfe eines Komplizen das Kind aus dem Vorhof zu holen. Oder sie versucht es von oben.»
«Vom Turm aus?», rief Corbeau ungläubig.
«Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.» Cédric bedachte Corbeau mit einem langen, prüfenden Blick. Er hatte Vertrauen
in den Mann, der intelligent war, geschickt und |371| selbständig genug, um auch mal alleine eine Entscheidung zu treffen.
Corbeau steckte die Börse ein, die Cédric ihm reichte. «Ich werde da sein», sagte er mit fester Stimme. «Was auch immer geplant
ist, ich werde es zu verhindern wissen.»
Cédric verzog den Mund zu einem Lächeln. «Du wirst dadurch berühmt werden.» Wieder ernst fuhr er fort: «Aber denk dran: Sei
vorsichtig!» Er fasste Corbeau an der Schulter und sah ihn eindringlich an. «Bring sie mir. Aber bring sie mir lebend. Ich
habe noch einiges mit ihr vor.»
***
Als Marie-Provence sich kerzengerade und mit einem stummen Schrei auf den Lippen im Bett aufrichtete, war es stockfinster.
Ihr Herz schlug in wilder Panik. Etwas stach in ihrer Brust, so qualvoll und unvermutet, dass ihr die Luft wegblieb. Sie holte
ein paarmal vorsichtig Luft, bis der Schmerz abflaute.
Hinter ihr atmete André tief und gleichmäßig. Sie wischte sich die feuchten Haare aus der Stirn und stand auf, auf der Suche
nach etwas Wasser. Vorsichtig tastete sie sich aus dem Raum, draußen entzündete sie eine Kerze. Sie trank drei Gläser leer
und fühlte sich anschließend etwas besser. Sekundenlang stand sie nackt und regungslos im Halbdunkel.
Ihr Blick glitt über den Tisch mit den Resten des Abendessens, über die Regale, auf denen sich Glasröhrchen, Phiolen und Destillierflaschen
aneinanderreihten, über die Wand, an der die technischen Pläne für die Konstruktion des Fallschirms angeheftet waren und allerlei
Zeichengeräte hingen. Ihr wurde klar, dass sie dieses liebenswerte Durcheinander, in dem sie monatelang gelebt und geliebt
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