Die Ballonfahrerin des Königs
hatte, bald zum letzten Mal sehen würde.
Wieder spürte sie den Stich in ihrem Herzen. Sie drückte ihre Hände gegen die Brust, stöhnte leicht. Ein schwacher Windzug
drang durch das offene Fenster des Schlafzimmers |372| und strich über ihre feuchte Haut. Sie schauderte. Was war los mit ihr? Panik und Verzweiflung drohten sie zu überwältigen.
Ich kann es nicht, schrie es in ihr, ich kann nicht fliegen, ohne die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen. Sie bebte am ganzen
Leib. Und sie verstand, dass sie im jetzigen Zustand morgen nicht in der Lage sein würde abzuheben.
Ein Ruck ging durch sie durch.
Verzeih mir, Vater!
Sie begann, ihre Kleidung zusammenzusuchen. Lautlos streifte sie sich die Wäsche über und glitt in ihre Schuhe. Im Nebenzimmer
fand sie den großen Umhang, der eigentlich für kältere Tage bestimmt war, und hüllte sich darin ein. Als das Tor der Schmiede
knarrte, während sie es einen Spalt aufschob, horchte sie auf, bis sie sicher war, dass sie André nicht geweckt hatte. Dann
schlüpfte sie hinaus.
Ein Igel trippelte über den Hof, als sie ihn durchquerte. Sie war dankbar, dass der Mond eine halbe Sichel zeigte und der
Himmel einigermaßen klar war, sodass sie den Weg erahnen konnte. Zum donjon sah sie nicht hoch. Die Tore des Temple waren
längst geschlossen, doch inzwischen war sie hier wohlbekannt. Sie brauchte ihren Ausweis nicht zu zücken, sondern eine Münze
reichte aus, um ihr trotz der späten Stunde Durchlass zu verschaffen.
«Wann willst du eigentlich endlich dein Versprechen einlösen und mit mir tanzen gehen, ma belle?», fragte sie der wachhabende
Soldat gutmütig.
Sie lächelte flüchtig und zog sich ihren Umhang tief über den Kopf. «Ein anderes Mal, Francjeu.» Erst als sie die zinnenbewehrte
Mauer des Temple hinter sich spürte, atmete sie etwas leichter.
Die Stadt bot nachts ein völlig anderes Bild. Keine Schlangen an den Bäckereien, keine bettelnden Mütter mit ausgemergelten
Kindern, keine aufgestellten Tische, an denen Unteroffiziere die Listen der Zwangsrekrutierten abhakten. Selbst die Kühe,
die tagsüber die verwilderten Gärten der Adelshäuser abgrasten, waren weggeschlossen worden. Stattdessen kreuzte Marie-Provence
Patrouillen, die im Gleichschritt die Lichtkegel der vereinzelten Laternen durchkreuzten, |373| und Angetrunkene auf der Suche nach einer späten Partie Whist oder Biribi.
Wegen der lauen Luft waren etliche Fenster geöffnet. In den Hauseingängen hatten sich im Schlaf zuckende Hunde zusammengerollt.
Der Geruch von Zwiebeln, saurem Wein und Abwasser waberte durch die Luft. Ein Plakat, auf dem der morgige Flug beworben wurde,
hing halb zerrissen neben offiziellen Bekanntmachungen an einer Bretterwand. Marie-Provence senkte den Blick und beschleunigte
ihren Schritt.
Zwei Straßen weiter entdeckte sie ein verlassenes Café. Nach kurzem Zögern betrat es Marie-Provence und verlangte nach Schreibzeug,
Tinte und Siegellack.
Eine halbe Stunde später verließ sie das Lokal, bestieg eine Mietkutsche und ließ sich zum quai des Célestins fahren.
***
«Marie-Provence! Du bist es?» Rosanne musterte die Freundin mit weitaufgerissenen Augen durch den Spalt ihrer Tür. «Ist etwas
passiert?»
Marie-Provence schüttelte den Kopf. «Darf ich reinkommen?»
«Natürlich.» Rosanne ließ sie durch, verriegelte aber schnell wieder hinter ihnen und gähnte. «Wie spät ist es überhaupt?»
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, die im Wirtsraum hing.
«Ich habe dich geweckt», bedauerte Marie-Provence.
«Zwei Uhr!» Rosanne zog das Tuch, das sie über ihr Nachthemd geworfen hatte, fröstelnd über die Schultern.
«Entschuldige. Ich benehme mich unmöglich, ich weiß, aber …» Sie stockte.
Allmählich wurde Rosannes Blick klarer. «Komm. Wir setzen uns hin. Möchtest du etwas trinken?»
Marie-Provence schüttelte den Kopf, ließ sich aber zu einem Stuhl geleiten. Als sie Auge in Auge mit ihrer Freundin saß, hob
sie an: «Ich brauche deine Hilfe.»
«Geht es um den Flug morgen? Um André?»
|374| In dem Augenblick knarrte die Treppe, und Dorette erschien, ein Öllämpchen in der Hand. «Was um alles in der Welt ist denn
hier los?» Sie riss die Augen auf. «Mademoiselle? Was machen Sie denn hier, mitten in der Nacht?»
Rosanne stand auf, redete begütigend auf sie ein und schickte sie wieder auf ihr Zimmer. Indessen knetete Marie-Provence ihre
Finger. Als Rosanne wieder vor ihr saß, sagte sie: «Ich
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