Die Ballonfahrerin des Königs
noch einen zweiten Insassen vorzufinden.
Was für ein hässliches Kind!, war sein erster Gedanke. Dabei hatten die letzten Jahre eine Unmenge trauriger Gestalten |397| geboren. Ob bettelnd, stehlend oder einfach nur ziellos herumstreunend – die Armut und Hungersnot machte auch vor den Kindern
nicht halt. Dieses hier allerdings, mit seinem unförmigen Leib, seinem fahlen Teint, seinem knochigen Schädel und dem gelben,
glanzlosen Haar, war so ziemlich das Unansehnlichste, was ihm jemals begegnet war.
Zu anderer Zeit hätte er wohl Mitleid verspürt. Doch es war kein Platz für solche Empfindungen in dem kleinen Korb. Sie hatte
ihre Liebe weggeworfen, für einen Jungen, der keinen Monat mehr zu leben hatte.
«Herr im Himmel», flüsterte Marie-Provence.
Beide, die Frau und das Kind, starrten ihn mit geweiteten Augen an, was ihn vermuten ließ, dass sein Anblick wenig erbaulich
war. Noch niemals war ihm sein Aussehen freilich so gleichgültig gewesen. Mit einem Schritt stand er in der Mitte des Korbes
unter der Ventilleine und packte sie.
«Was machst du da?»
André fixierte Marie-Provence, ohne zu antworten. Schließlich wusste sie genau, wozu das Ventil diente. Er zog an der Leine.
Marie-Provence griff an ihren Hosenbund.
Auf einmal war die Mündung einer Pistole auf Andrés Brustkorb gerichtet.
Nach den Erlebnissen der letzten Stunde hatte André gedacht, dass ihn nichts mehr würde erschüttern können. Er hatte sich
geirrt.
«Lass sofort die Ventilleine los!»
André stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. «Warum sollte ich? Damit ich für den Rest meines Lebens als Befreier Capets
dastehe?»
«Weil der Rest deines Lebens sonst kaum mehr der Erwähnung wert ist.»
Er sah sie unumwunden an. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen. «Dann wirst du wohl schießen müssen, Marie.»
Die Mündung der Pistole bebte merklich. Marie-Provence war weiß wie ein Laken, ihre Lippen waren nur noch |398| ein Strich. Andrés Puls raste. Die Frau, die vor ihm stand, war ihm fremd – genauso fremd wie die porzellangesichtige Schönheit,
die ihm in Maisons in ihrem altmodischen Kleid gegenübergestanden hatte. Er hätte nicht voraussagen können, was sie nun tun
würde.
Als sie sich plötzlich bewegte, spannte sich sein ganzer Körper an. Doch sie riss nur die Pistole herum und richtete die Mündung
nun auf ihren eigenen Kopf.
«Lass die Ventilleine los», wiederholte sie. «Sonst schieße ich.»
«Was für ein Unsinn! Was würde dir das bringen?»
«Was habe ich schon zu verlieren?», gab sie heftig zurück. «Was hat
er
schon zu verlieren? Wenn wir hier runterkommen, dann werden wir festgenommen und zum Tode verurteilt. Aber ich gehe in kein
Gefängnis mehr! Eher sterbe ich hier und jetzt und von meiner eigenen Hand, als noch einmal auf den Henker warten zu müssen!»
Sie starrten sich sekundenlang an. Marie-Provence’ Arme bebten. Es war offensichtlich, dass ihre Nerven bis zum Zerreißen
gespannt waren. Und André glaubte ihr. Sie hatte alles hinter sich gelassen, alles zerstört, was sie sich in Paris aufgebaut
hatte. Vernünftige Argumente erreichten sie nicht mehr.
Jetzt, da die Situation André zwang, nachzudenken, seine Wut irgendwie in Zaum zu halten, drängte sich ihm die Frage auf,
ob er sein weiteres Leben mit der Gewissheit verbringen wollte, an Marie-Provence’ Hinrichtung und am Tod des Kindes Schuld
zu haben. Nicht wegen seiner Liebe zu ihr. Sondern aus Selbstachtung. Und ihm wurde klar: Von allen Alternativen, zwischen
denen er jetzt wählen musste, war die Verantwortung für den Tod zweier Menschen die schrecklichste und endgültigste. André
meinte, ersticken zu müssen. Er zog gewaltsam Luft in seine Lungen.
Und ließ die Leine los.
Sie hatte gewonnen.
|399| Marie-Provence keuchte vor Erleichterung, als André zurücktrat. Endlich konnte sie die schwere Pistole sinken lassen, die
sie die ganze Zeit an ihre Schläfe gepresst hatte. Es war besser, sie wieder einzustecken − sie traute ihren flatternden Händen
nicht. André hätte sie jetzt zwar ohne weiteres überwältigen können, doch irgendwie wusste sie, dass er es nicht mehr versuchen
würde. Sie senkte den Blick. Er sah schrecklich aus mit seiner blutverkrusteten rechten Gesichtshälfte. Sie konnte sich kaum
an einen Augenblick in ihrem Leben erinnern, an dem sie sich so leer gefühlt hatte. Selbst in La Force nicht.
Sie wandte sich Charles zu. Die Finger des Jungen hatten
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