Die Ballonfahrerin des Königs
Obwohl wir monatelang wie Mann und Frau miteinander gelebt haben, hast du mich die ganze Zeit belogen. Verdammt, Marie-Provence,
glaubst du wirklich, dass du die Richtige bist, mein Vertrauen einzufordern?»
Er starrte sie an mit einer Wut, die ihr die Nackenhaare sträubte. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal Angst vor André
haben könnte. Jetzt aber fühlte sie instinktiv, dass sie keinen Schritt weiter gehen durfte. Sie senkte den Blick. «Ich muss
mich um den Fallschirm kümmern», sagte sie stattdessen steif. Sie kniete sich auf den Korbboden nieder und klappte einen Schutzdeckel
hoch. Nun lag der Mechanismus, der den Fallschirm am Korb hielt, offen vor ihr. Der Boden war mit einem Drahtgeflecht verstärkt
worden, um das zusätzliche Gewicht des Springers zu tragen. Darunter war ein Karabinerhaken befestigt, der sich vom Korb aus
öffnen ließ, um den Fallschirm freizugeben.
Marie-Provence spürte Andrés Blick auf ihr lasten, als sie |402| den Mechanismus betätigte. Nichts passierte. Sie runzelte die Stirn. Wiederholte den Versuch mehrere Male. Stand auf, spähte
über den Korbrand. Der Schirm war noch da.
«Was ist los?», fragte André.
«Ich verstehe das nicht. Der Fallschirm fällt nicht ab.»
«Zeig her.» André kniete sich nun ebenfalls nieder. Nach einer sorgfältigen Inspizierung kam er wieder auf die Beine. Zum
ersten Mal, seit er im Korb erschienen war, wirkte er weniger wütend als nachdenklich.
«Weißt du, was da los ist?»
Er warf ihr einen Blick zu. «Der Fallschirmring schlüpft nicht aus dem Haken. Wahrscheinlich, weil der Schirm nicht schwer
genug ist. Mein Gewicht fehlt.»
Marie-Provence fühlte ein Kribbeln in ihrem Rücken. «Was machen wir nun? Du sagtest selbst: So können wir nicht landen.»
André zog sein Messer. Er bohrte es zwischen die engen Maschen des Drahtgeflechts, versuchte, sie auseinanderzubiegen, um
an den Haken zu gelangen. «Nichts zu machen. Die Metallstreben sind zu starr. Ich kann den Haken nicht erreichen.»
«Was heißt das?»
André blieb lange Zeit stumm. Als er endlich antwortete, war es mit einer Kälte, für die sie ihn hätte schütteln wollen.
«Jemand muss runter und versuchen, den Schirm von unten zu lösen.»
Sie starrte ihn ungläubig an. «Unmöglich!»
André zuckte mit den Schultern. «Ich würde sagen, wir haben keine Wahl.»
Marie-Provence erschauerte. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Strickleiter,
die noch immer über dem Korbrand baumelte. Nein. Nein, das konnte sie nicht. Sie schloss die Augen. André hatte recht: Sie
hatten keine Wahl. Sie nahm ihr Messer.
Kaum hatte sie ein zittriges Bein über den Korbrand gelegt, wurde sie zurückgerissen.
|403| «Was machst du da? Bist du verrückt?», herrschte André sie an und stieß sie von sich. «Pass lieber auf den da auf!» Er deutete
auf das Kind.
«Aber du kannst mit deiner Verletzung doch nicht …» Sie verstummte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
André packte ein loses Seil, das er sich ein paarmal um die Hüften schlang und verknotete. Das andere Ende befestigte er über
ihren Köpfen am Korbring. Dann setzte er seine Stiefel auf die erste Sprosse der Leiter.
André bemühte sich, seine Gedanken allein auf die anstehende Aufgabe zu richten und seinen Widerwillen und seine Furcht gar
nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Er wusste, dass Marie-Provence dort oben stand und zu ihm herabschaute. Unbändige Wut
schäumte in ihm auf. Sein Stiefel rutschte über den Seilstrang. Nicht an sie denken, mahnte er sich, vor allem nicht an sie.
Die ersten Sprossen zu überwinden war relativ leicht, denn sie wurden von der Korbwand stabilisiert. Dann allerdings erreichte
André den Boden des Korbes, und die Strickleiter schwang im Nichts. Bald pendelte André frei über dem Abgrund. Es war die
Wiederholung seines gerade durchlebten Albtraums. Der beschädigte Fallschirm hing nun vor ihm, doch in zu großer Entfernung,
um ihn fassen zu können. Er musste die Strickleiter wieder in eine Pendelbewegung versetzen, um näher an ihn heranzukommen.
Zuvor aber musste er noch einige Sprossen hinabsteigen, um genügend Spielraum zu haben.
Was sollte er nach der Landung machen? Marie-Provence und dem Jungen nachwinken und auf die Gendarmen warten? Und denen dann
alles erklären? Im Vertrauen, dass irgendjemand ihm diese unglaubliche Geschichte abnahm und ihn nicht aufs Schafott schickte?
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