Die Ballonfahrerin des Königs
es erwartet hatte, gehorchte der Ballon und zog nach oben. Sie hielt sich am Flechtrand fest. Noch ein Schuss. Gleich
darauf ein Wutschrei.
Marie-Provence spähte über den Korbrand. Weder Batz noch Cortey waren mehr zu sehen. Nur das verwaiste Seil, das an der Außenfassade
der grande tour baumelte, verriet, dass etwas Ungewöhnliches passiert war – und ein Soldat, der im Laufgang drohend eine Faust
reckte.
«André! André!» Sie schrie, bis sie heiser war. Doch von unten kam nur Schweigen. Sie konnte ihn nicht sehen, dafür sorgte
der Ring, der den Fallschirm leicht geöffnet hielt und André ihren Blicken entzog.
Auf einmal ein Ruck. Es war die Führungsleine, die den Ballon über einer Grünfläche des Temple hätte stabilisieren sollen
und anschließend zur Bergung vorgesehen gewesen war. Marie-Provence sah nach unten. Eine Menschentraube zu ihren Füßen, Dutzende
Hände, hochrote Gesichter, die rhythmisch zu ächzen begannen. Man versuchte, sie zum Boden zurückzuholen!
Ihre Gedanken überschlugen sich. Der Plan hatte beinhaltet, André über den Grünflächen des Temple abspringen zu lassen, sobald
sowohl Höhe wie Untergrund geeignet gewesen wären. Er hätte den Schirm aufgespannt und ihr ein Zeichen gegeben. Dann hätte
sie den Karabinerhaken geöffnet, der Schirm und Springer am Rumpf hielt. Aber was jetzt? Sie konnte ihn unmöglich lösen. Falls
er verletzt war, wäre das sein sicherer Tod. Aber was sollte sie sonst tun? Ihn mitnehmen?
Marie-Provence wischte die feuchten Hände an ihrer Hose ab. Was zögerte sie eigentlich noch? Warum gab sie vor, die Wahl zu
haben?
Sie zog das Messer. Die Zuschauer unten winkten ihr wild |391| zu. Ein Schnitt, und die Führungsleine war durchtrennt. Marie-Provence sackte zurück.
«Ist alles in Ordnung?», fragte sie Charles.
Das Kind hatte sich eng an den Käfig mit den drei Tauben geschmiegt. Es nickte.
«Gut», flüsterte sie. Wie oft hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt! Und wie oft sich die Freude ausgemalt, die sie
dann überkommen würde! Die Flucht ist geglückt, dachte sie. Charles ist frei!
Doch der Triumph wollte sich nicht einstellen. Sie spürte nichts als wilde, schreckliche Angst. Unwillkürlich fiel ihr Blick
zu ihren Füßen. Eine Angst, die ihr einflüsterte, dass Andrés Leiche unter ihnen hing.
Vielleicht hätte Marie-Provence noch Stunden so dagesessen, starr vor Furcht, wenn Charles nicht gewesen wäre. Sie war jetzt
ganz alleine für sein Leben verantwortlich. Sie durfte sich nicht gehenlassen! Sie spürte, dass er sie beobachtete. Wichtig
war vor allem, dass sich ihre Panik nicht auf ihn übertrug.
Es kostete sie viel Kraft, sich zu bewegen. Der Ballon. Sie zwang sich zu überprüfen, ob alles in Ordnung war, und die Griffe
durchzuführen, die André sie gelehrt hatte. Gott sei Dank schien keiner der Schüsse die Hülle verletzt zu haben.
Die Menschen unten waren geschrumpft, wurden zu bunten Figuren ohne Antlitz. Der Festplatz war noch immer voller Zuschauer,
die auf sie zeigten. Eine Gruppe Soldaten stand in Reih und Glied, auch sie sah nach oben. Marie-Provence fragte sich, ob
Barras inzwischen wusste, was gerade vor seinen Augen geschehen war, und ob er nun seine Männer auf sie hetzte. Es war nicht
unmöglich, mit einem Pferd einem Ballon nachzujagen … Irgendwann einmal würde ihr diese Vorstellung vielleicht Sorge bereiten, doch jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken.
Der leichte Wind aus Südwesten war aufgefrischt, und da der Temple sich im Norden der Stadt befand, wurden sie in Richtung
Stadtmauer getrieben.
Es wurde kühler. Sie holte eine Decke hervor und hielt |392| sie Charles hin. Das Kind hielt jedoch den Blick auf die drei Vögel gerichtet, die im Käfig aufgeregt hin und her trippelten.
Marie-Provence legte dem Kind den Wollstoff um die Schultern. Sie rang sich ein Lächeln ab.
«Sie brauchen nichts zu befürchten. In wenigen Stunden werden wir unter Freunden sein.»
Erneut kam der Gedanke an André in ihr hoch und drohte, sie zu überwältigen. Sie würde noch verrückt werden, wenn sie die
nächsten Stunden hier oben stand und abwartete. Aber was konnte sie tun? Ihr Blick fiel auf die rote Schnur, die durch den
Boden des Korbes und die Mitte des Schirmes bis zu ihm lief. Damit hätte er ihr Bescheid geben sollen, dass er zum Absprung
bereit war. Es war die einzige Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren.
Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel
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