Die Ballonfahrerin des Königs
bedeutete sie Marie-Provence mit ihrer mächtigen Hand, ihr zu folgen.
«Komm mit.»
Kurz darauf standen sie an Charles’ Lager.
Mutlos sank Marie-Provence neben dem Jungen auf die |470| Knie. «Er fiebert wieder.» Sie legte die Hand auf seine Stirn und erschrak. «Warum? Es ging ihm doch besser!» Sie strich die
feuchten blonden Strähnen aus dem Kindergesicht. Charles wimmerte. Marie-Provence presste sich die Hand auf den Mund. Die
Gedanken rasten in ihrem Kopf, ohne dass sie einen einzigen zu fassen bekam. Und die Panik, die sie schon vorhin ergriffen
hatte, als sie so plötzlich Croutignac gegenüberstand, drohte erneut, sie zu überwältigen. «Egal. Wir müssen los.»
«Du kannst das Kind unmöglich mitnehmen.»
Schweigend schob Marie-Provence einen Arm unter Charles’ Beine – und erstarrte, als Charles urplötzlich einen markerschütternden
Schrei ausstieß. Sie schreckte zurück. «Mein Gott …» Sie starrte verzweifelt die Schwellung in Charles’ Kniekehle an. «Aber wir müssen doch weg!»
«Dieses Kind leidet Höllenqualen. Wenn du es bewegst, wird es ununterbrochen schreien. Du kommst keine fünf Schritte aus dem
Haus, ohne aufgehalten zu werden.»
«Das verstehst du nicht!», fuhr Marie-Provence Théroigne an. «Sie wollen ihn einsperren! Und wenn er eingesperrt wird, stirbt
er!»
«Kleine!» Théroignes Stimme war sanft.
Marie-Provence blickte zu ihr auf. Ihr Magen krampfte sich zusammen. «Nein!», schrie sie.
«Wir können das Schicksal nicht bezwingen. Und auch nicht das Leben.»
«Ich kann es. Ich habe Charles bereits gerettet!»
«Nein, das hast du nicht, du Närrin.» Théroigne packte Marie-Provence beim Nacken. Die wehrte sich, doch die Amme war stärker.
«Schau es dir an», raunte Théroigne ihr ins Ohr. «Dieses Kind wird sterben! Und das Einzige, was du tun kannst, ist, es in
Würde und Geborgenheit gehen zu lassen!»
Marie-Provence riss die Augen auf, wollte den Kopf schütteln, doch Théroignes Griff war unerbittlich. Und dann sah sie, was
sie bislang stur verweigert hatte.
«Lass ihn mir.» Théroignes eiserner Griff löste sich. Ihre |471| Hand blieb auf Marie-Provence’ Nacken liegen. «Ich glaube nicht, dass er noch einmal aufwacht. Du hast gesagt, ein Mann verfolgt
euch. Dem Jungen kann er nichts mehr anhaben. Aber du, du kannst fliehen und dich in Sicherheit bringen. Ich habe Übung in
diesen Sachen, das weißt du. Es wird ihm gutgehen bei mir. Ich werde ihn nicht alleine lassen.»
Marie-Provence kniete noch immer neben dem hohlwangigen Kind. In ihr war nichts als Stille, Leere. Théroignes Worte hallten
in ihrem Kopf wie in den geplünderten Hallen von Maisons. Etwas Schweres, Untragbares lastete auf ihren Schultern, ihrem Nacken,
drückte ihren Kopf nieder, bis ihre Stirn auf dem Bett lag. Charles’ dürre Hand lag neben ihrem Gesicht. Sie zuckte. Marie-Provence
ergriff sie, wie so oft zuvor in ihrem Leben, hielt sie fest. Sie spürte den eiligen Puls unter der blaugeäderten Haut. Sie
spürte, wie die Wärme, die von dieser Haut ausging, die Leere in ihr verdrängte und in Gewissheit verwandelte.
«Ich bleibe», flüsterte sie.
«Aufmachen, im Namen der Republik!», polterte es an der Tür.
Marie-Provence schluckte. Sie hielt Théroigne zurück. «Lass nur. Ich gehe schon.» Sie atmete einmal tief durch.
Wichtig ist nicht, ob du stark bist …
Sie öffnete die Tür. «Kommen Sie herein.»
Croutignac verharrte eine Sekunde lang verblüfft, drückte dann die Tür auf und trat über die Schwelle. Die vier Soldaten,
in deren Begleitung er war, drangen in den Raum.
«Nehmt beide Frauen fest! Und sucht nach dem Jungen», befahl er.
«Nein! Ich führe euch zu ihm», widersprach Marie-Provence. Ein Soldat packte ihre Unterarme. «Ohne mich werdet ihr ihn nicht
finden!»
«Das wollen wir doch mal sehen.» Croutignac machte eine zackige Handbewegung. «Los, Männer. Auf was wartet ihr noch?»
|472| Kurz darauf hörte man die Soldaten Haus und Garten durchwühlen. Marie-Provence warf Théroigne einen Seitenblick zu, doch diese
verzog keine Miene. Falls die Amme befürchtete, Charles’ könne entdeckt werden, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie warteten,
wie Marie-Provence schien, eine Ewigkeit. Endlich aber versammelten sich die Soldaten wieder im Raum – mit leeren Händen.
«Glauben Sie mir jetzt?», fragte Marie-Provence.
Croutignacs Augen verengten sich hinter den dicken Brillengläsern. «Was führst
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