Die Ballonfahrerin des Königs
die Gassen von Auray schritt. Ihre ausgeliehenen Holzschuhe, die eigentlich
Théroignes Tochter gehörten, machten, wie ihr schien, einen Höllenlärm auf den Pflastersteinen. Zudem waren sie ihr zu klein
und drückten schmerzhaft. Doch Holzschuhe und Théroignes geflügelte, ausladende Haube machten sie unsichtbar zwischen allen
anderen Holzschuhen und Hauben der Stadt.
Wenn sie den Vogel erst hatte, würde Charles wieder essen und kräftig genug werden, um mit ihr zu ihren Leuten zurückzukehren.
Zudem war die Botschaft, die sie Théroigne anvertraut hatte, heute Morgen von der Amme an die Chouans weitergeleitet worden.
Marie-Provence zweifelte nicht daran, dass ihr Vater und die Royalisten erleichtert waren; sicher taten sie jetzt alles, um
sie und das Kind aus Auray herauszuholen. Falls es ihnen dennoch nicht gelang, würden Charles und sie sich selbst helfen müssen.
Zielstrebig ging Marie-Provence zu dem Tor, das in den Garten des Notars führte. Wie erhofft war es unverschlossen. Sie hielt
die Luft an und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, als sie wie selbstverständlich den Garten betrat. In der kurzen Zeit, während
sie bei Glain wohnten, hatte der Korb mit der Brieftaube entweder bei Charles oder unter freiem Himmel neben der Küche gestanden.
Wenn das Schicksal es gut mit ihr meinte, würde ihr Unternehmen ein Kinderspiel sein.
|466| Marie-Provence durchquerte die vertrocknenden Obstbeete und hielt direkt auf das Haus zu. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Neben
der Küche stand ein Stuhl. Auf ihm ein Korbgeflecht, das einen weißen Vogel schützte. Das Schicksal hatte ein Einsehen!
Am liebsten wäre Marie-Provence in den Laufschritt verfallen, doch es war nicht ausgeschlossen, dass jemand sie vom Haus aus
beobachtete.
Plötzlich erstarrte sie. Ein blauuniformierter Soldat trat aus der Küchentür. Er stellte sein Bajonett ab und griff lässig
in seine Tasche.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Wieso waren noch Soldaten im Haus? Sie versuchte, sich zu beruhigen. Vielleicht war hier
nur eine Wache postiert worden, um den geflohenen Notar abzupassen, falls dieser − wie sie − zurückkehrte, um noch etwas zu
holen. Sie atmete befreit auf. Genau das würde es sein. Niemand würde auf eine Bretonin achten, besonders nicht, wenn diese
etwas so Harmloses wie einen Vogelkäfig holen wollte. Außerdem war sie bereits zu nah, um noch kehrtzumachen. Beherzt trat
sie auf den Soldaten zu.
Dieser hatte derweilen eine kleine Pfeife aus seiner Tasche gezogen und begann, sie zu stopfen.
«Bonjour, soldat!», grüßte Marie-Provence strahlend.
Der Mann musterte sie und lächelte. «He, wo kommst du denn her?»
«Von gegenüber. Meine Tante schickt mich, ihren Vogel wieder abzuholen. Als sie krank war, hat sie wegen dem ständigen Gurren
nicht schlafen können und ihn unserem Nachbarn in Pflege gegeben. Aber jetzt geht es ihr besser, und der Vogel fehlt ihr.»
Sie ging zum Käfig. «Darf ich?»
«Hab nichts dagegen.» Der Mann stopfte seinen Tabakbeutel zurück in die Tasche. Sein Blick glitt an ihr hinab. «Wohnst du
bei deiner Tante? Kann man dich dort mal besuchen?»
Schritte tönten aus der Küche. «Mit wem redest du da, Soldat?»
|467| Es war eine männliche Stimme. Dieser Tonfall … Etwas in ihr schlug Alarm. Und dann sah sie ihn.
Cédric Croutignac trat aus der Küchentür.
Sie starrten sich eine Sekunde lang an, sprachlos, so überrascht, dass keiner von ihnen zu handeln vermochte. In der nächsten
Sekunde rannte Marie-Provence los.
«Soldat, verhafte diese Frau! Schnell!»
Den Vogelkorb an sich gepresst, hetzte Marie-Provence aus dem Tor. Croutignac war hier, in der Bretagne! Ihretwegen, dessen
war sie sich sicher. Die Erinnerung an die Todesangst auf dem Schafott lebte wieder auf und drohte, sie zu überwältigen. Théroigne.
Sie musste zu Théroigne und zu Charles zurück. Allerdings nicht auf direktem Weg. Vorher musste sie ihre Verfolger abschütteln.
Noch immer kannte sie sich kaum in der Stadt aus. Sie lief durch mehrere Gassen und Sträßchen, orientierte sich am Glockenturm
der Kirche Saint-Sauveur und gab stets acht, in etwa die Himmelsrichtung beizubehalten, in der sie Théroignes Haus vermutete.
Hinter ihr, in einiger Entfernung, hörte sie die diffusen Geräusche mehrerer Verfolger, die sich an ihre Fersen geheftet hatten.
Sie hastete über einen Marktplatz, der von Fachwerkhäusern mit Andreaskreuzen gerahmt war. Fischer vom Hafen
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