Die Ballonfahrerin des Königs
Hilfe anbot, deutete er nur ein
Kopfschütteln an. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, öffnete sich die Tür, und Charles’ Arm fiel auf die Decke zurück.
|477| «Ich halte mein Versprechen. Ich lasse ihn frei», sagte das Kind feierlich.
Marie-Provence nickte langsam. «Wenn du das möchtest.» Sie hielt die Käfigtür auf. Der weiße Vogel beäugte die Öffnung mit
ruckartigen Kopfbewegungen, trippelte näher. Marie-Provence und Charles hielten den Atem an. Dann plötzlich ein Sprung, das
Rascheln von Flügeln. Etwas Weißes streifte Marie-Provence’ Wange. Die Taube flatterte noch ein paar Sekunden unter dem Dach
herum, dann entschwand sie im Himmelblau.
«Jetzt hasst sie mich nicht mehr», erklärte Charles zufrieden.
«Ich glaube nicht, dass sie Sie jemals gehasst hat», widersprach Marie-Provence. «Sie haben ihr zu fressen gegeben. Sie war
Ihnen dankbar.»
Charles sah sie an, und Marie-Provence musste sich zu ihm hinabbeugen, um ihn zu verstehen. Stockend sagte er: «Ich war niemals
dankbar, als man mich in meinem Käfig fütterte. Warum sollte sie es gewesen sein?»
Marie-Provence wandte ihr Gesicht ab. Mit übergroßer Sorgfalt stellte sie den leeren Käfig weg. «Sie haben recht.»
Nachdenklich und sehr leise sagte das Kind: «Dich habe ich manchmal auch gehasst, Marie. Wenn du an der vergitterten Tür gestanden
und zu mir hineingeguckt hast, und ich war drinnen. So wie die Taube.» Er tastete nach ihrer Hand, fragte verunsichert: «Verzeihst
du mir?»
Noch nie war ihr ein Lächeln so schwergefallen. «Aber ja», flüsterte sie. «Haben Sie nicht auch der Taube verziehen?»
«Ich war nie zornig auf sie.»
«Sehen Sie!»
Charles’ Stirn wurde wieder glatt. Marie-Provence und er lächelten sich an. Dann fielen dem Kind die Augen zu.
Marie-Provence ergriff voller Angst seine gesunde Hand, doch der Puls lief, schwach, aber gleichmäßig. Charles war eingeschlafen.
Sie lehnte sich zurück, kraftlos vor Erschöpfung. Ihre |478| Augen brannten, und ihr Hals fühlte sich an, als würde er in einem viel zu engen Kragen stecken.
«Komm, Kleine. Mach ein paar Schritte. Ich löse dich ab», brummte Théroigne, als sie nach einer Weile zurückkehrte. «Geh in
die Küche, ich habe dort einen Teller für dich bereitgestellt.»
Marie-Provence entfernte sich langsam und mit steifen Gliedern. Sie verspürte keinen Hunger, doch es tat gut, sich von den
letzten Sonnenstrahlen wärmen zu lassen. Ein paar Heuschrecken sprangen davon, als sie den Weg zum Birkenhain einschlug. Sie
sank auf die alte Bank und ließ die Ruhe des Ortes auf sich wirken. Schließlich streckte sie sich auf der Sitzfläche aus und
starrte in den Himmel. Die kleinen Blätter der Birken bewegten sich sanft. Wolkenschleier zogen über das Blau, einige färbten
sich bereits. Die Nacht war nicht mehr weit.
«Ist er tot?»
Ihr war, als hätte man sie geschlagen. Sie schnellte hoch. «Nein!», schleuderte sie Croutignac entgegen. «Es tut mir schrecklich
leid, doch Sie werden noch ein wenig warten müssen.»
Croutignac kam näher. Er zuckte die Schultern. «Ich habe es nicht eilig.»
«Nein, warum sollten Sie auch? Einer Ihrer größten Träume wird bald in Erfüllung gehen. Sie müssen diese Stunden doch regelrecht
genießen!»
Croutignac antwortete nicht. Sein Gesicht blieb unbewegt.
Marie-Provence dachte an Théroigne und ihren Rat. Doch sie fühlte sich außerstande, ihn zu befolgen. Croutignac hatte Charles
auf dem Gewissen. Und ihre Mutter. Und auch ihr selbst trachtete er seit Monaten nach dem Leben. Vor diesem Mann Verständnis
zu heucheln und ihn nach den Einzelheiten des Todes seiner Tochter auszufragen, ging über ihre Kräfte. «Was sind Sie bloß
für ein Mensch! Gerade von Ihnen, der am eigenen Leibe gespürt hat, wie es ist, ein |479| krankes Kind zu verlieren, könnte man in dieser Situation Ehrfurcht und Mitgefühl erwarten.»
«Falsch. Von jemandem, der unter den gleichen Umständen wie ich sein Kind verloren hat und nun dem Tod von Louis-Charles Capet
beiwohnt, könnte man Genugtuung und Freude erwarten.»
Ihr wurde übel.
Er lächelte dünn. «Ich schockiere dich, das sehe ich dir an. Tatsache aber ist, dass das Kind da drüben meine Tochter Félicie
ermordet hat. Genauso wie dein Vater. Und dass ich mich freuen werde, wenn es zu Ende ist.»
Marie-Provence starrte den Mann an. «Ihre Tochter starb an den Pocken, das haben Sie selber gesagt. Sie müssen verrückt
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