Die Ballonfahrerin des Königs
Saint-Goustan
boten Waren in ihrer rauen Sprache feil. Ein Geruch von Tang, Muscheln und Fischgedärm umwehte Marie-Provence. Dann bog sie
in ein winziges Gässchen ein.
Schiefe Fachwerkhäuser mit Auskragungen säumten es bis zu einer buckeligen Steinbrücke. Darunter gluckerte ein Bach zwischen
schlammigen Ufern dahin. Kurz entschlossen verließ Marie-Provence den Weg. Sie hatte Glück: Es war Ebbe, und der Bach, in
dem sich bei Flut das Meerwasser staute, führte nur wenig Wasser mit sich. Ein Schlickstreifen lag frei. Marie-Provence kroch
unter den bemoosten Steinbogen, kauerte sich auf dem stinkenden, von grünen Fadenalgen und messerscharfen Muschelsplittern
bespickten Schlick zusammen und wartete.
Nach wenigen Sekunden hörte sie Schnaufen, Stiefelabsätze |468| hämmerten über ihrem Kopf. «Schneller, Männer, sie entkommt uns noch!»
Croutignacs Stimme erklang vom anderen Ufer, wurde leiser, bis sie nicht mehr zu hören war. Marie-Provence wartete, bis ihr
Herz etwas ruhiger schlug, ergriff dann den Käfig mit dem flatternden Vogel und kroch aus ihrem Versteck. Draußen war alles
ruhig.
Sie überlegte schnell. Ob das der Bach war, der auch an Théroignes Grundstück vorbeifloss? Wenn ja, würde sie vielleicht den
Garten der Amme über das Ufer erreichen können. Einen Versuch war es wert.
Sie machte sich auf den Weg. Der Schlamm erschwerte zwar ihr Vorankommen, denn die Holzschuhe rutschten − wenn sie nicht einsanken
−, und der Vogelkäfig drohte immer wieder, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch sie hastete mühsam voran, die Angst
an den Fersen. Zu ihrer Linken wechselten sich schiefe Häuserrücken, Gebüsch und Zäune ab. Endlich tauchte eine verwitterte
Steinmauer auf. Marie-Provence war erleichtert, als sie dahinter Birkenblätter erspähte. Hier war sie richtig!
Jetzt galt es allerdings noch, über das Mauerwerk zu klettern. Kein kleines Unterfangen, angesichts der Höhe des Bauwerks.
Die Holzschuhe machten eine Kletterpartie unmöglich. Marie-Provence zog sie aus, und ihre Füße versanken im weichen Boden.
Sie schleuderte die Holzpantinen in Théroignes Garten. Aber was tun mit dem Vogelkäfig? Sie wollte nicht riskieren, dem Tier
das Genick zu brechen, wenn sie mit dem Käfig ähnlich vorging. Kurz entschlossen öffnete sie die Schürze, die zu ihrer Tracht
gehörte, und fädelte deren Bänder durch den Griff des Käfigs. Dann befestigte sie beides in fliegender Hast wieder mit einem
dreifachen Knoten um ihre Taille. Zwar war der Käfig hinderlich, aber es würde gehen. Schließlich brauchte sie ihre Hände
für die Mauer.
Sie ergriff den ersten Mauervorsprung, während ihre Zehen sich in eine Ritze schoben. Unerträglich langsam gewann sie an Höhe,
bis ihre Hände endlich die Mauerkrone |469| ertasteten. Erschöpft zog sie sich herauf. Bevor sie sich an den Abstieg machte, warf sie einen letzten Blick auf den Bach.
Alles war ruhig.
Aber was war das?
Mein Gott, wie konnte man nur so dumm sein? Ungläubig starrte sie hinunter, auf ihre eigenen Fußspuren, die sich überdeutlich
durch den tiefen Schlamm zogen.
Sie hatte Croutignac den direkten Weg zu ihrem Versteck gezeigt.
«Ist etwas passiert?», fragte Théroigne lautstark, um César zu übertönen, der wie am Spieß brüllte. Ein Häufchen abgerupfter
Blütenstiele lag zu seinen Füßen.
«Ich muss Charles holen. Wir sind hier nicht mehr sicher», sagte Marie-Provence außer Atem. «Ich habe jemanden getroffen –
einen Mann, den ich kenne und der mich und Charles verfolgt. Ich bin über das Bachufer geflüchtet, doch er wird meinen Spuren
folgen, und …»
«Jetzt beruhige dich erst einmal. Die Flut wird die Spuren am Bach verwischen. In ein paar Stunden ist nichts mehr zu sehen.»
Théroigne beugte sich schnaufend über ihren Bauch zu César hinab und beäugte die Pusteln, die sich auf seinen kleinen Händen
gebildet hatten. Kopfschüttelnd sah sie auf die unscheinbaren grüngelben Blütenstängel zu ihren Füßen, aus denen ein zäher
milchiger Saft austrat. «Irgendwo wachsen schon wieder Euphorbien im Garten. Immer wenn ich das giftige Kraut ausreiße, kommt
woanders was nach. Ein Teufelszeug ist das!» Sie zog César in die Arme. «Komm her, mein armer Schatz!»
«Wir können nicht so lange warten», entgegnete Marie-Provence ungeduldig. «Das Risiko ist zu groß, wir müssen sofort los.»
Théroigne betrachtete sie einen Augenblick stumm. Dann
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