Die Ballonfahrerin des Königs
sein!»
«Leider nein, das wurde mir nicht vergönnt.» Sein Gesicht wurde finster. Er drehte sich weg. «Wir verlassen dieses Haus morgen
früh, bei Sonnenaufgang. Und wenn der Balg bis dahin nicht tot ist, nehmen wir ihn mit.»
«Das dürfen Sie nicht», schrie Marie-Provence. «Sie haben es mir versprochen!»
Er beachtete sie nicht, sondern eilte mit großen Schritten davon.
Kurze Zeit darauf betrat Marie-Provence wieder den Unterstand. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
«Was waren das für Stimmen?», fragte Théroigne.
Marie-Provence benetzte ihre Lippen. Ihre zitternden Finger griffen nach Charles’ Hand. «Wenn Croutignac hier noch einmal
auftaucht, reiße ich ihn in Stücke», sagte sie.
Marie-Provence schlug die Augen auf. Sie zog sich mühsam in ihrem Stuhl hoch. Was hatte sie geweckt? Es war tief in der Nacht.
Zwei Lampen waren an den Stützpfosten des Unterstandes aufgestellt worden, warmes Licht warf Kreise auf den gestampften Lehmboden.
Graue Nachtfalter und Eintagsfliegen umschwärmten sie und stießen gegen das Schutzglas.
Marie-Provence’ Blick fiel auf das Lager. Charles’ Augen |480| waren weit geöffnet. Stumm und reglos blickte er in die Nacht. Nur selten schlug er mit den Wimpern.
Marie-Provence atmete tief durch, und die Ruhe der Nacht senkte sich auf sie herab. Die laue Sommerluft war erfüllt von Zirpen,
ab und zu unterbrach der Ruf eines Käuzchens das Konzert. Der Mond war nicht zu sehen, doch Myriaden von Sternen prangten
am Himmel. Charles bewegte schwach die Finger, und Marie-Provence beugte sich über ihn.
«Tauben finden immer zurück, nicht wahr?», raunte er.
«Ja, das tun sie.»
Stockend und kaum hörbar, aber eindringlich fragte er: «Selbst wenn sie so lange von ihrer Familie getrennt waren? Und die
ganze Zeit nur in einem kleinen Käfig gelebt haben?»
«Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird nach Hause finden.»
Ein Lächeln huschte über Charles’ Lippen. Dann fielen seine Augen zu.
Marie-Provence starrte in die sternklare Nacht. Warum nur fürchteten sich die Menschen vor ihr? Gott kannte keine Dunkelheit,
sie war allein das Werk der Menschen.
Sie hielt Charles’ Hand, bis sie kalt wurde.
|481| 15. KAPITEL
Messidor, Jahr III
Juli 1795
«Ich will unter keinen Umständen gestört werden. Ist das klar?»
Der Soldat nickte. «In Ordnung, Monsieur Croutignac.»
Cédric betrat den Raum und verriegelte die Tür mit einer doppelten Umdrehung des Schlüssels. Ein kurzer Blick genügte, um
den Leichnam des Kindes zu entdecken. Er trat näher. Jemand hatte die Hände des Jungen über dessen Brust gefaltet. Zwei Kerzen
brannten und spendeten warmes, aber unzureichendes Licht. Cédric beglückwünschte sich, an eine Lampe gedacht zu haben. Diese
stellte er so auf, dass der Oberkörper des Kindes gut beleuchtet war. Ein paar Sekunden lang betrachtete er das starre Antlitz
mit den farblosen Lippen. Er verspürte weder Hass noch Zorn oder Genugtuung. Es war vorbei, und es war gut so. Die Genugtuung
würde mit Sicherheit noch kommen, später. Und mit ihr der Frieden.
Cédric holte das Leder aus seiner Jackentasche und entrollte es. Ein Skalpell kam zum Vorschein. Cédric prüfte die Schärfe
an einem Stück der Hülle − die Klinge zerschnitt das Leder wie Butter.
***
«Gott segne dich, Kleine.»
«Dich auch, Théroigne.» Marie-Provence strich der Amme mit gefesselten Händen über das breite Gesicht. «Und achte weiterhin
gut auf César.»
Théroigne wiegte den Kopf hin und her und umarmte sie. |482| «Er ist kräftig. Er wird derjenige sein, der einmal für mich einen Baum pflanzen wird.»
Marie-Provence nickte und zog sich ihr Tuch über den Kopf. «So soll es sein. Aber erst in ferner Zukunft.» Es gelang ihr,
zu lächeln. «Sechs Birken reichen für einen Garten.»
«Genug jetzt.» Croutignac machte ein Zeichen. «Los, Männer!»
Die vier Soldaten nahmen Marie-Provence in die Mitte, mit Croutignac an der Spitze traten sie auf die Straße. Théroigne sah
ihnen nach. Nach einer Straßenbiegung verlor Marie-Provence sie aus den Augen.
Der Trupp lief schnell, und Marie-Provence hatte Mühe, Schritt zu halten. Jetzt, da alles vorbei war, wurde ihre Müdigkeit
übermächtig. In den drei Tagen, die sie in Théroignes Haus verbracht hatte, hatte sie kaum geschlafen, und nun waren ihre
Beine so schwer, dass sie auf dem unebenen Pflaster von Auray taumelte.
«Schneller!» Ein Stoß in den Rücken trieb sie
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