Die Ballonfahrerin des Königs
Blick um sich. Das Fenster?
Nein. Es würde zu lange dauern, es zu öffnen. Also die Tür! Sie machte einen kleinen, gleitenden Schritt zur Seite. Wenn es
ihr gelänge, sich an |66| Jomart vorbei – doch in dem Augenblick drehte der Arzt sich um und fasste sie an die Schulter.
«Aber bevor wir weiterreden, müssen Sie meine Assistentin kennenlernen. Sie ist der Grund, weshalb Sie heute hier sind.»
Marie-Provence schloss die Fäuste, als sie ihre Schlussfolgerungen bestätigt hörte.
Verräter!
«Darf ich vorstellen? Mademoiselle Duchesne, dies ist Monsieur André Levallois. Monsieur Levallois, meine Assistentin, Mademoiselle
Duchesne.»
Marie-Provence wartete darauf, dass der Mann sie nun packen würde. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr auffiel, dass etwas
nicht stimmte.
Warum griff dieser Levallois nicht zu?
Warum führte er sie nicht ab? Warum stand er da mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht, diesem … Leuchten in den Augen?
«Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie glücklich mich unser Wiedersehen macht, citoyenne!» Er ergriff ihre Hand, und
sie zuckte heftig zusammen. Doch er verbeugte sich nur, und hielt sie nicht zurück, als Marie-Provence sie ihm entriss.
«Sie kennen sich bereits?», fragte Jomart überrascht.
«Kennen? Nein. Oder besser ja, doch! Ich sah die citoyenne vor ein paar Wochen, einige Straßen von hier entfernt. Ich war
im Auftrag meines Vaters unterwegs, der Wohlfahrtsausschuss hat einen Fries bei uns bestellt – eine Darstellung des französischen
Volkes und der Revolution.» Er lächelte. «Ich entwerfe oft die Muster und Motive unserer Tapeten, mein Vater lässt mir darin
freie Hand. Nicht selten spüre ich diese neuen Motive auf der Straße auf. Und an jenem Tag, nun, die citoyenne kaufte gerade
ein, und ich suchte nach einer Marktszene – doch schauen Sie selbst!»
Der Mann zog die Schnüre seiner großen Mappe auf, öffnete sie und entnahm ihr ein in Leder gebundenes Buch, das Marie-Provence
wohlbekannt war. Die Seiten teilten sich ohne sein Zutun. Jomart nahm das Buch entgegen, beugte sich drüber, blätterte um,
eine Seite, dann die nächste, immer |67| weiter. Ein wissendes Lächeln erhellte sein Gesicht. Er murmelte: «Sie sind begabt, junger Mann. Darf ich?», fragte er mit
einem Blick auf Marie-Provence.
Der Mann zögerte kaum merklich. «Bitte, ja», antwortete er schließlich.
Marie-Provence hatte keine Ahnung, was das alles sollte, und ihr Verstand weigerte sich hartnäckig, dem Geschehen einen Sinn
abzuringen. Folgsam schlug sie den Einband auf und begann, mit ungeschickten Fingern das Buch durchzublättern. Es waren Skizzen:
Gruppen von Menschen; ein frisch einberufener Soldat, der von seiner Familie verabschiedet wurde; ein sans-culotte, die typische
rote Mütze auf dem Kopf, einen Säbel in der Hand, den Mund geöffnet zum Schrei; eine Menschenmenge, darin ein Bürgermeister,
erkennbar an seiner Schärpe, beim Pflanzen eines arbre de la liberté, eines Freiheitsbaumes; ein Sänger an einer Straßenkreuzung,
vor einem Plakat mit der Abschrift der Marseillaise; Marktszenen. Und da … eine junge Frau aus dem Volk, die mit einer Obstverkäuferin feilscht. Marie-Provence schluckte. Ihre Finger glitten über
die weiblichen Gestalten.
Mein Gott, das bin ja ich!
Sie blätterte um. Und begegnete sich erneut, diesmal allein. Ihr Gesicht nur, aufmerksam, fragend. Auf der nächsten Skizze
umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Dann wieder ein ernstes Bild … Marie-Provence blätterte hastig weiter. Sie, immer nur sie … Die Skizzen wurden einfacher, es fehlten Schraffuren, die Striche wurden kühner, wilder – als wenn jemand die letzten Bilder
in fliegender Hast, ja, in einer Art Fieber auf das Papier geworfen hätte. Und dann, plötzlich, nur noch leere Seiten. Marie-Provence
klappte das Buch zu. Sie sah hoch und begegnete Levallois’ Blick.
«Du bist damals plötzlich verschwunden», sagte der junge Mann. «Ich bin losgerannt und habe dich gesucht. Ich fürchte, ich
habe dir Angst gemacht, aber …» Er nahm ihr das Buch sachte aus der Hand. Er lächelte. «Ich hätte das Buch so gerne gefüllt.»
Ihr Kopf war noch immer leer. Nur so viel verstand sie: |68| Dieser Mann war nicht hier, um sie zu verhaften. Sie hatte sich von ihrer eigenen Angst täuschen lassen. Sie konnte sich also
beruhigen – aber weshalb tat sie es dann nicht? Weshalb schlug ihr Herz noch immer so schnell in ihrer
Weitere Kostenlose Bücher