Die Ballonfahrerin des Königs
ankam, als sie die bescheidenen Häuser, den gedrungenen Kirchturm und das im Hintergrund,
auf dem anderen Seineufer, erhaben aufragende Dach des Schlosses erblickte, atmete sie auf. Sie sehnte sich nach der kühlen
Dunkelheit des unterirdischen Ganges, und sie beschleunigte ihren Schritt, als sie an dem frisch umgetauften Restaurant vorbeiging.
Sie wollte Rosanne jetzt nicht sehen. Heute Abend würden sie eben Reste essen müssen.
Und dann sah sie sie doch. An der Pumpe, zwischen dem Schweine- und dem Hühnerstall.
Marie-Provence blieb stehen. «Rosanne? Rosanne, was ist los?»
Die junge Frau antwortete nicht, sondern verharrte in ihrer sonderbar gekrümmten Stellung, eine Hand am Schlegel der Pumpe,
die Rechte im gefüllten Eimer. Marie-Provence trat näher. Rosannes Haut war tränenverschmiert, doch das hübsche Gesicht mit
den Sommersprossen war ausdruckslos, die grünen Augen wie erloschen. Die Haube hatte sie verloren, und ihre Locken, die die
helle Farbe von Löß hatten, klebten an ihrer feuchten Stirn. Erst jetzt fiel Marie-Provence auf, dass auch ihre Röcke und
Ärmel vollkommen durchnässt waren.
«Komm her, Rosanne.» Marie-Provence löste behutsam die Finger der Freundin vom Pumpenschlegel, zog ihren anderen Arm aus dem
Holzeimer – und schrie auf.
«Mon Dieu, Rosanne, wie ist das passiert?» Marie-Provence starrte ungläubig auf die verunstaltete feuerrote Hand: die Glieder
waren geschwollen, Blasen überzogen die Haut bis auf den Unterarm. «Was hast du gemacht? Rosanne, hörst du mich?»
|62| Marie-Provence ergriff das Gesicht ihrer Freundin und drehte es zu sich. «Ma chérie, antworte mir bitte! Du hattest einen
Unfall! Du musst zum Arzt! Wo ist Georges?»
«Georges?», fragte Rosanne heiser. Auf einmal sank ihr Kopf auf Marie-Provence’ Schulter, und ein herzzerreißender Ton drang
aus ihrer Kehle.
Marie-Provence kam ein furchtbarer Verdacht. «Hat dein Mann etwas damit zu tun? Nun antworte doch!»
«Wir waren so glücklich! Ich … Ich habe ihn so geliebt …»
Fassungslos starrte Marie-Provence die verbrannte Haut ihrer Freundin an.
«Er hat es nicht mit Absicht gemacht. Bestimmt nicht! Er war wütend. Ich habe ihn provoziert.»
Marie-Provence erinnerte sich an Ernestines Worte. Rosanne lässt ihre Würde täglich mit Füßen treten, hatte sie gesagt. «Hat
Georges dich schon öfter verletzt, Rosanne?»
Rosanne schluchzte so laut, dass keins ihrer Worte zu verstehen war. Marie-Provence sagte eindringlich: «Das darfst du unmöglich
länger zulassen, Rosanne! Du musst dich wehren. Ihn verlassen!»
«Nein! Das kann ich nicht!»
Marie-Provence betrachtete forschend das verweinte Gesicht. «Liebst du ihn etwa noch?»
«Ihn lieben?» Rosanne zögerte, schüttelte den Kopf. «O Gott , Marie-Provence», sagte sie leise, «es ist tot!» Sie legte die unverletzte Hand auf die Brust. «Nichts mehr! Ich bin tot!»
Angstvoll starrte sie Marie-Provence an. «Ich will das nicht!»
«Wenn es tot ist, musst du von ihm weg, Rosanne.» Die Trauer, die Rosannes Blick beschwerte, schnitt Marie-Provence ins Herz.
«Kannst du mir sagen, wie ich das machen soll? Wo soll ich denn hin?» Rosanne machte eine Geste in Richtung Falltreppe. «Und
wo soll meine Mutter hin? Wenn ich nicht hierbleibe, müsst ihr alle aus dem Schloss raus!»
Sie sahen sich an. Rosanne hatte recht. In der Kirche |63| musste ein Vertrauter wohnen, damit die Falltür weiterhin benutzbar blieb. Ohne Komplizen würde ihr Kommen und Gehen bald
entdeckt werden.
Auf der anderen Seite stellten Georges Ausbrüche ein kaum einzuschätzendes Risiko dar.
***
«Suchen Sie etwas, docteur?»
«Oui!» Jomart durchwühlte seine nussbraunen Haare, wie immer, wenn er ratlos war. «Die Arbeit über die Versuche der künstlichen
Ernährung an Syphilis erkrankter Säuglinge. Wenn ich bloß wüsste, wo ich sie hin …»
«Meinen Sie diese Tabelle hier?», fragte Marie-Provence lächelnd.
«Mademoiselle, Sie sind der Ariadne-Faden im Labyrinth meines Daseins!», rief der Arzt erfreut. Er griff nach dem Blatt und
vertiefte sich sofort in die Lektüre.
Marie-Provence beobachtete ihn schmunzelnd. Ihre Bewerbung für diese Stelle war rein zweckmäßig gewesen und gebunden an Jomarts
Zugangsberechtigung zum Temple. Umso überraschender war die Erfahrung gewesen, dass sie gerne in die maison de la couche kam.
Das lag zum einen an Jomart: Obwohl sie Vorurteile gegen den Arzt gehabt hatte, weil er auf
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