Die Ballonfahrerin des Königs
zwei kürzeren runden Türmen, die durch ein lieblos hochgezogenes
Stück Mauerwerk aneinandergefesselt waren. Was für eine trostlose Umgebung für ein Kind!
«Wir müssen zur grande tour», erklärte Francjeu.
Ein untersetzter Mann in Uniform trat aus der bewachten und mit vielen Eisenstreben verstärkten Tür, die in einem der vier
Ecktürme eingelassen war und den Eingang zur grande tour bildete. Kaum wurde er der zwei Besucher gewahr, brüllte er los.
«Francjeu? Warum bist du nicht an deinem Platz? Und wer ist diese Person?»
«Mist, der capitaine», murmelte Francjeu, bevor er sich versteifte und salutierte. «Citoyen capitaine, diese Bürgerin ist
hier, um dem citoyen docteur Jomart ein dringend benötigtes Gerät zu übergeben!»
«Ein was?»
«Ein Gerät für die Visite, capitaine Zeller. Ein Marko …»
«Ein Mikroskop», berichtigte Marie-Provence mit einem Lächeln. «Der docteur hat es vergessen. Er braucht es dringend, deshalb
habe ich es ihm nachgebracht.»
Der Uniformierte betrachtete sie einen Atemzug lang verblüfft. Dann schwoll eine Ader an seinem Hals an, und er donnerte:
«Soldat Francjeu, nimm auf der Stelle diese Frau fest!»
Marie-Provence presste den Korb an sich.
«Aber capitaine», stotterte Francjeu. «Warum …»
«Diese Frau lügt! Wie kannst du sie nur bis hierherbringen? Wie kannst du ihr diesen Unfug glauben?»
Marie-Provence’ Herz klopfte wie verrückt. Damit hatte |85| sie nicht gerechnet. «Citoyen capitaine, bitte sag mir, was du mir vorwirfst!»
«Deine Hände!», befahl capitaine Zeller und zückte eine Fessel.
Marie-Provence zuckte zurück. Nein, nicht jetzt! Nicht so kurz vor dem Ziel! Zeller griff nach ihr. Sie wehrte sich, doch
vergeblich. Der Korb fiel zu Boden, als die Hand des Soldaten sich um ihren Arm schloss.
«Was geht hier vor?»
Die Frage war nicht laut gewesen, doch es reichte aus, um den Offizier strammstehen zu lassen. Marie-Provence wand sich, worauf
sich Zellers Finger tiefer in ihren Unterarm gruben. Sie warf sich herum, bereit, den Neuankömmling anzuflehen − doch dann
erkannte sie, wer da auf sie zukam. Und jeder Laut erstarb auf ihren Lippen. Die Welt versank um sie herum, die Zeit drehte
sich in einem Wirbel zurück, bis zu dem Augenblick, an dem ihr früheres Leben zerstört worden war …
Nachdem sie den endlosen Weg von Marseille nach Paris glücklich hinter sich gebracht hatten, hatte Marie-Provence Tante und
Onkel in der Poststation zurückgelassen und war alleine zum quai des Augustins gefahren. Sie wollte Vater und Mutter überraschen.
Sie benutzte den Schlüssel, den sie noch hatte, und trat ein. Warum auch nicht? Schließlich war sie hier zu Hause.
Doch etwas hatte sie gestört, von Anfang an. Etwas, das nicht greifbar war. Sie sah sich um. Das Vestibül, die Möbel, aufgeräumt
und gepflegt. Frische Blumen auf dem Tisch. Was also stimmte nicht?
Es war noch früh am Tag. Ihr Vater war es als Offizier gewohnt, bei Sonnenaufgang aufzustehen und sich einen starken Kaffee
bringen zu lassen. Doch es lag kein Geruch frischgemahlener Bohnen in der Luft. Es drangen auch keine Geräusche aus der Küche.
Also die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf. Ein langvermisster Klang ließ sie lächeln: ihre Absätze im Treppenhaus, die zwei
knarrenden Stufen. Das vertraute Gefühl des blankpolierten
|86|
Handlaufs unter ihren Fingern. Kurz hielt sie inne. Wieder empfand sie diese Befremdung, der sie weder Gesicht noch Namen
geben konnte. Etwas war verändert, doch was?
Sie ging weiter. Das Zimmer ihrer Mutter. Marie-Provence klopfte an und schob die Tür auf. Da wurde die Befremdung übermächtig.
Das Bett war leer, die Läden waren geschlossen. Das Zimmer kalt. Es roch wie eh und je nach Lavendel und Rosen. Aber auch
verlassen.
Marie-Provence wich zurück und lief zum Zimmer ihres Vaters. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie anklopfte und eintrat,
ohne auf eine Antwort zu warten. Erleichterung. Ein menschliches Wesen unter den Decken. Endlich. Vater!
Doch der freudige Ausruf war ihr im Halse steckengeblieben. Ein Mann schälte sich aus den Decken. Das buschige Haar unter
der Nachtmütze von stumpfem Blond, die hellen Augen kurzsichtig. Er war stramm und nicht sehr groß, stellte Marie-Provence
fest, als er aufsprang und nach seiner Brille tastete. Nicht größer als sie selbst. Die haarigen Beine, die aus dem Nachthemd
ragten, waren fleckig, genau wie seine Hände, und die Haut
Weitere Kostenlose Bücher