Die Ballonfahrerin des Königs
sicher, ob sie überhaupt sehen wollte, was sie nun erblickte.
Die dritte Tür war auf Hüfthöhe abgesägt worden. Den fehlenden oberen Teil ersetzten Eisenstäbe. Dort, wo diese auf das Holzpaneel
trafen, waren sie auseinandergebogen worden, sodass eine Öffnung entstand. Diese Öffnung war gerade groß genug, um eine Schüssel
hindurchzureichen, und mit einem kleinen Brett unterlegt, sodass man einen Teller abstellen konnte. Ein Eisengitter mit einem
riesigen Vorhängeschloss versperrte die Öffnung, wenn sie nicht gebraucht wurde.
«Nun zier dich nicht so. Geh hin und sieh ihn dir an!», befahl Croutignac ungeduldig. Und zur Tür schrie er: «Capet! Capet,
komm her und zeig dich!»
Als Marie-Provence sich den Gitterstäben näherte, merkte sie, dass die Laibung vor Nägeln und Schrauben nur so strotzte, und
schlagartig wurde ihr klar: Das Öffnen war nicht vorgesehen. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.
«Capet!», donnerte es erneut.
Marie-Provence stand nun an der Öffnung. Ein Geruch sprang ihr entgegen, der sie würgen ließ. Sie griff nach ihrem Brusttuch,
um es sich an die Nase zu halten, doch dann bewegte sich etwas im hinteren Eck des Zimmers. Eine Gestalt. Marie-Provence’
Hand glitt zurück. Sollte sie Charles etwa signalisieren, dass er unerträglich stank?
Die Gestalt trat näher. Marie-Provence’ Finger klammerten sich an das Gitterwerk der Tür.
Es herrschte Dämmerung im Raum, was daran lag, dass das einzige Fenster mit einer Jalousie abgedeckt war. Das Licht reichte
nicht aus, um zu lesen oder Farben zu unterscheiden. Marie-Provence musste sich anstrengen, um Einzelheiten |92| zu erkennen. Wobei nicht viel zu erkennen war: ein mittelgroßer Raum, darin eine Strohmatratze und ein paar Decken, ein Fayence-Teller
mit undefinierbarem Inhalt, ein steinerner Krug.
Charles schien ihr kaum größer als in ihrer Erinnerung. Er trug eine dunkle, vielleicht rostbraune Hose, eine kurze ärmellose
Jacke gleicher Farbe und ein ehemals weißes Hemd, das allerdings so schmuddelig war, dass es sich kaum von den Wänden abhob.
Und was hatten sie mit seinen hellen Locken gemacht? Die kurzgeschorenen Haare lugten zottelig unter einer kegelförmigen phrygischen
Mütze hervor, die ihre rote Farbe längst verloren hatte. Der Kleine war als Jakobiner verkleidet worden.
Man hätte das Kind noch immer als hübsch bezeichnen können, denn seine Züge waren regelmäßig, auch wenn seine Augen etwas
weit auseinanderlagen − wäre seine Haut nicht so fahl und sein Gang nicht so schleppend gewesen. Er wirkte zart und zu klein
für seine neun Jahre. Doch es waren vor allem die Augen des Kindes, die einen fesselten und erschreckten zugleich. Stumpf
und leblos ruhten sie im grauen Jungengesicht.
«Nimm deine Finger von der Tür! Es ist verboten, sie zu berühren», bellte es hinter Marie-Provence. Doch sie war unfähig,
zu gehorchen.
«Loslassen, hab ich gesagt!»
Da passierte etwas mit dem kleinen Gesicht. Eine leichte Bewegung der Brauen. Die schweren Lider hoben sich ein wenig.
Sie sahen sich an. Marie-Provence’ Lippen formten stumm seinen Namen,
Charles
, und sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht an dem Gitter zu rütteln, um ihm nicht zuzurufen, um nicht zu versuchen,
einen Funken Leben auf das graue Antlitz zu zaubern.
«Weg da!»
Jemand packte Marie-Provence grob an den Schultern und riss sie weg. Sie schnappte nach Luft.
«Es ist gut, Cédric», hörte sie Jomart sagen. «Du hast deinen |93| Willen gehabt. Und jetzt lass uns gehen.» Sie spürte, wie ihre Schultern erneut umfasst wurden. «Reißen Sie sich zusammen»,
murmelte Jomart an ihrem Ohr. «Und seien Sie still. Kein Wort, hören Sie?»
***
«Wie lange lebt er schon so?»
Jomart, der während ihres langen Schweigens auf der Fahrt zurück zur maison de la couche aus dem Fenster der Kutsche geschaut
hatte, hob die Schultern. «In Einzelhaft, meinen Sie? Ich weiß es nicht genau. Ich besuche ihn erst seit ein paar Wochen.
Doch seinem Gesundheitszustand nach zu urteilen, schätze ich, seit vier oder fünf Monaten.»
Der Wagen hielt plötzlich an. Sie waren noch nicht weit gefahren und befanden sich in der rue des Fontaines du Temple, kurz
vor dem ehemaligen Kloster der Madelonnettes. Früher ein Heim für geläuterte Freudenmädchen, diente der Bau seit einem Jahr
als Gefängnis für politische Häftlinge. Marie-Provence versuchte auszumachen, was ihren Wagen behinderte. Sie
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