Die Ballonfahrerin des Königs
vorlassen, aber sie
könnten vielleicht das Ding da dem citoyen docteur zukommen lassen. Und als kleines Dankeschön darf ich dich ausführen – in
vier Tagen zum Beispiel, bei der Fête de l’Être Suprême. Und wir werden bis zum Umfallen tanzen. Was hältst du davon?»
«Das würdest du für mich tun?» Marie-Provence strahlte. «Ja, ich werde da sein, in vier Tagen, ganz bestimmt!», rief sie aus.
Und das war, wie sie sich einzureden versuchte, während sie mit heißen Wangen dem Soldaten folgte, nicht wirklich eine Lüge.
Der Temple war ein großes Areal, das Mitglieder des Templerordens im Mittelalter auf trockengelegtem Sumpfland errichtet hatten.
Als Dank für ihre gewaltige Arbeit hatte der damalige König den Templern die Herrschaft über das Gebiet überlassen und somit
einen Brauch festgelegt, der zum Teil noch heute Gültigkeit hatte: So brauchte man im Temple keine Steuern zu bezahlen. Auch
die Gilden waren dort machtlos, und Handwerker konnten sich niederlassen, ohne eine Lehre oder Meisterprüfung absolviert zu
haben. Verschuldete und von der Justiz Gesuchte fanden ebenfalls Zuflucht im Temple, auch Rousseau hatte dort vor dreißig
Jahren Schutz vor seinen Verfolgern gefunden.
Das Tor, dessen Flügel sich jeden Abend schlossen, befand sich im Norden. Als Marie-Provence es durchschritt, erblickte sie
zu ihrer Linken einfache Behausungen, einen Ziehbrunnen und eine breite Viehtränke, hinter denen die Dächer enteigneter Adelshäuser
hervorlugten. Gegenüber dem Tor, auf der südöstlichen Seite der Einfriedung, befand sich die rotonde, ein moderner, länglicher
Rundbau, in dem reger Handel getrieben wurde. Dahinter breiteten sich Gärten und kleine Felder aus. Auf der rechten Hälfte
des Temple lag der frühere Wohnsitz des Priors und seine Dependancen. Hier war in den letzten Jahrzehnten viel zerstört und
neu gestaltet worden, sodass das Ganze heute ein eigentümliches |83| Gebilde war aus ineinander verschachtelten Küchen, Ställen, kunstvoll gestalteten Fassaden, Türmen, Kirchen und Kapellen,
uralten Wohnanlagen, hôtels, verwilderten Gärten, Brunnen und Höfen.
Marie-Provence und ihr Führer arbeiteten sich durch diesen Wirrwarr. Man hätte leicht die Orientierung verlieren können, wenn
der donjon nicht gewesen wäre, der einem die Richtung wies. Der trutzige Turm wuchs vor Marie-Provence zu einer beeindruckenden
Höhe heran. Ihr Herz schlug wild: Sie hatte Angst vor dem, was sie gleich vorfinden würde.
Der donjon war ein Symbol für ganz Frankreich. Denn es war das Gefängnis, in dem vor zwei Jahren König Louis XVI. mitsamt
seiner Familie eingesperrt worden war und in dem noch immer sein Sohn ausharrte, der kleine Louis XVII .
Marie-Provence dachte an den kleinen, blonden Jungen, den sie zum letzten Mal vor drei Jahren gesehen hatte, kurz bevor er
und seine Familie die missglückte Flucht in Richtung Varennes unternommen hatten. Danach hatte Guy de Serdaine Marie-Provence
nicht mehr erlaubt mitzukommen, wenn er die königliche Familie besuchte, und sie hatte ihrem Vater lediglich Briefe für den
Dauphin mitgeben dürfen. Charles − denn bei seinem zweiten Vornamen nannten ihn alle, die zu seinem engeren Kreis gehörten
− hatte jedoch seinen angestammten Platz in ihrem Herzen behalten, und noch immer fühlte sie sich für ihn auf eine dringende,
unerklärliche Weise verantwortlich.
Endlich erreichten sie die Mauer, die nach dem Eintreffen der königlichen Gefangenen in aller Eile rings um den Turm errichtet
worden war. Eine Wache ließ sie ein, und sie gelangten auf das schmale Wiesenstück zwischen Turm und Mauer. Es war, als betraten
sie eine neue Welt. Kein plätschernder Brunnen war hier zu hören, nur noch Stille. Das ungepflegte Grün trug Narben von den
jüngsten Umwälzungen. Harzende Baumstümpfe ragten heraus. Das einzige Lebenszeichen war eine Elster, die über die wuchernde
Wiese stakste. Sie flüchtete mit einem Schrei.
Marie-Provence hielt beim Anblick des Gefängnisses die |84| Luft an. Ihr Blick arbeitete sich den zweiteiligen Bau hinauf. Der imposanteste Teil des donjon, die grande tour, war ein
riesiger quadratischer, schmuckloser Bergfried mit groben Zinnen und bedeckt von einem tintenblauen Schieferdach. Aus allen
vier Ecken ragten dünne runde, ebenfalls mit Schiefer bedachte Türme. Der zweite Teil des donjon, die petite tour, schloss
an die östliche Fassade des Bergfrieds an und bestand aus
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