Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Douglas
Vom Netzwerk:
ganze Menschheit.»
    Marie-Provence drehte das Holz ratlos in den Händen herum.
    Er nahm es ihr behutsam ab. «Das, citoyenne, ist ein Meter.» Seine Finger liebkosten die Latte. «Du musst wissen, dass beschlossen
     wurde, in ganz Frankreich ein einheitliches Maß anzuwenden, dem ein bestimmter Bruchteil des Meridians der Erde zugrunde liegt.
     Die Messungen zur Bestimmung dieser Maßeinheit sind noch nicht ganz abgeschlossen, doch man hat dank früherer Arbeiten schon
     einen ungefähren, provisorischen Wert festlegen können. Und diese Maßeinheit hast du vor dir!»
    Levallois’ dunkle Augen strahlten. Sein ganzer Körper drückte eine Begeisterung aus, die ansteckend wirkte. Marie-Provence
     entspannte sich und lächelte.
    Er fuhr eifrig fort: «Stell dir vor, citoyenne: Ob in Paris, Rennes, Bordeaux oder Lyon – ganz Frankreich wird in Zukunft
     über dasselbe sprechen, wenn von einem Meter Stoff die Rede ist! Was für eine Erleichterung für den Handel und die Wissenschaft!
     Wer weiß, vielleicht wird sogar einmal das Ausland dieses Maß übernehmen!»
    Sie schüttelte lachend den Kopf. «Allons, citoyen, du bist |78| ein Träumer. Wir stehen im Krieg mit halb Europa, schon vergessen? Ich sehe schwarz, was die Begeisterung unserer Nachbarn
     für französische Erfindungen betrifft.»
    «Du irrst dich», entgegnete er ernst. «Wir sind Zeugen einer aufregenden und wunderbaren Zeit. Und wir haben das Glück, in
     einem Land zu leben, das Europa erhellt auf seinem Weg zur Befreiung der Völker. Alle Augen sind auf Frankreich gerichtet!
     Wir haben eine Führungsrolle übernommen, und wir sollten uns ihrer würdig zeigen, indem wir keiner Herausforderung ausweichen.
     Und dieses Meter, citoyenne, ist eine solche Herausforderung!»
    Marie-Provence’ Lächeln erstarrte. Aufregende und wunderbare Zeiten! Levallois hatte eine Familie und lebte in geordneten
     Verhältnissen. Er brauchte sich weder zu verstecken noch zu befürchten, dass ihn jemand aufgrund seiner Geburt aus seinem
     Haus warf oder unter die Guillotine zerrte! Vielleicht hätte sie sich unter ähnlichen Umständen auch von einem Stück Holz
     begeistern lassen. Heute allerdings rief es nur Bitterkeit in ihr hervor.
    Jomart, der mit großen Schritten den Raum betrat, holte sie aus ihren düsteren Gedanken. Der Arzt wirkte abgekämpft und winkte
     ihr nur im Vorübergehen zu. «Mademoiselle Duchesne, wir sehen uns heute Nachmittag wieder, ich habe außerhalb zu tun.» Er
     griff nach seiner ledernen Tasche und verschwand.
    Marie-Provence atmete auf, erleichtert, dass ihm nicht das fehlende Gewicht des Mikroskops aufgefallen war. Sie sah auf die
     Uhr an der Wand. Fünf Minuten würde sie ihm Vorsprung geben. Während sich Levallois mit seinem Meter an den Wänden zu schaffen
     machte, kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und entnahm das Mikroskop der Schublade.
     Sie wickelte es sorgfältig in ein sauberes, weiches Tuch.
    «Ich muss jetzt auch weg», sagte sie zu dem Tapetenhändler. «Wirst du alleine zurechtkommen?»
    Levallois’ Enttäuschung war offenkundig. «Oh, ganz und gar nicht, fürchte ich.»
    |79| «Dann solltest du morgen doch besser jemanden mitbringen, der dir zur Hand geht.»
    «Darf ich dich begleiten? Ich bin hier sowieso fast fertig.»
    «Nein!», schoss es aus Marie-Provence. Ruhiger fügte sie hinzu: «Nicht heute. Es geht nicht, ich habe etwas zu erledigen.
     Etwas, bei dem ich alleine sein möchte.»
    «Dann in vier Tagen.»
    Es war mehr ein Entschluss denn eine Frage, und Marie-Provence fragte überrumpelt: «Was ist in vier Tagen?»
    «In vier Tagen findet die Fête de l’Être Suprême statt. Und du wirst mich dorthin begleiten.»
    «Das kommt überhaupt nicht in Frage!», wehrte Marie-Provence ab. «Ich hasse Menschenansammlungen.»
    «Ich verspreche dir einen Logenplatz. Nur du und ich. Und eine Kulisse, wie du sie noch nie erlebt hast.»
    «Nein, unmöglich», sagte Marie-Provence entschlossen. «Du verstehst das nicht. Ich würde mich sehr unwohl fühlen.»
    Er ergriff ihre Hand. «Bitte, citoyenne. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Du wirst dem Fest weitab vom Volk beiwohnen.
     Und doch an allererster Stelle sein.»
    Marie-Provence sah auf seine Hand, die die ihre umschloss. Sie wusste ganz genau, was sie jetzt tun musste. Er war der Feind.
     Sie wusste nichts von ihm.
Halte dich von ihm fern!
Sie zog an ihrer Hand, doch er ließ nicht locker.
    Er sah sie

Weitere Kostenlose Bücher