Die Ballonfahrerin des Königs
nicht die Klatschsucht unserer lieben Mitbürger, ma chère. In Paris wurde Politik schon immer auf der Straße
gemacht. Das war auch so, als noch gekrönte Häupter dieses Land regierten.»
Auf den Gehsteigen standen einfache Frauen, die Girlanden aus Buchszweigen banden und sie mit blauweißroten Kokarden schmückten.
Einige der Girlanden hingen bereits an den Fassaden. Die Bürgerinnen blickten zufrieden an ihnen hoch, die Arme in die Hüften
gestemmt. Die Stadt bereitete sich auf die Fête de l’Être Suprême vor.
Marie-Provence drückte ihre Handfläche gegen die kühle Scheibe. «Wenn citoyen Croutignac so viel an der Gesundheit des Jungen
liegt, weshalb behandelt er ihn dann so schlecht?»
Jomart öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, stieß dann aber nur geräuschvoll Luft aus. Offensichtlich war ihm das
Thema unangenehm. «Croutignac ist nur zum Teil schuld an den Haftbedingungen des Jungen», wich er aus. «Sie sind auch ein
Ergebnis der Rivalität zwischen der commune und der Regierung. Haben Sie die Herren in Zivil gesehen, die sich im Erdgeschoss
aufhielten?»
«Nein.»
«Diese Herren gehörten der commune an, dem Gemeinderat von Paris. Wie Sie wissen, verfügen die Herren der commune seit Beginn
der Revolution über sehr viel Macht, eine Macht, die sich bis weit über die Stadtmauern ausdehnt. Die commune war es, die
Louis XVI. verhaften und einkerkern ließ, ihr obliegt auch die Aufsicht über die hohen Gefangenen. Deswegen wechseln sich
täglich Mitglieder der commune im Gefängnis ab. Nachts schlafen sie vor der vergitterten Tür des Jungen.»
Marie-Provence erinnerte sich an die Feldbetten, die sie im Vorraum erblickt hatte, und nickte. «Citoyen Croutignac |99| hat die Herren der commune nicht besonders beachtet. Heißt das, dass der Herr, dem er dient, ihr nicht angehört?»
«Doch, aber dieser glaubt, sie nicht besonders hofieren zu müssen.»
«Ist der Mann ein Mitglied der Regierung?»
«O ja. Man kann sogar sagen, dass er deren Kopf ist.»
«Robespierre», murmelte Marie-Provence.
Jomart lächelte leicht.
«Und weshalb glaubt Robespierre, die commune vernachlässigen zu können?», hakte Marie-Provence nach.
«Robespierre wollte noch nie einer unter vielen sein. Er hat die commune bereits geschwächt und sich gefügig gemacht, indem
er Danton und alle anderen Rivalen aus ihr eliminiert hat. Er ist Mitglied im Wohlfahrtsausschuss, also in der Exekutive,
und er beherrscht den Club der Jakobiner. Er arbeitet an seiner Macht, stärkt sie täglich. Und der junge Louis-Charles ist
ein wunderbares Instrument dafür: so lässt Robespierre die Herren der commune von Croutignac bewachen. Sobald einer von ihnen
Mitleid zeigt oder den Antrag stellt, die Haftbedingungen zu lindern, wird ihm der Prozess gemacht. Man erfindet einen Komplott,
produziert ein paar Beweise – Croutignacs Spezialität –, und schon ist man einen oder mehrere Rivalen los, deren Platz mit einem Mann aus dem eigenen Lager besetzt werden kann.
Sie können sich vorstellen, wie viele Menschen es gibt, die sich unter solchen Umständen für bessere Haftbedingungen des kleinen
Capets einsetzen.»
Marie-Provence senkte den Kopf. Zwei Augen, aus denen jede Hoffnung vertrieben worden war. «Er ist doch nur ein kleiner Junge»,
flüsterte sie. Sie biss sich auf die Lippen, zwang sich, zu schweigen, und sprach dann doch die Frage aus, die ihr schon lange
auf der Zunge lag: «Woher wissen Sie so viel über Cédric Croutignac?»
«Nun ja, für Familienmitglieder empfindet man immer eine besondere Neugier, nicht wahr? Gerade wenn sie angeheiratet sind,
ist man natürlich erpicht darauf, mehr über ihr Wesen zu erfahren.»
|100| «Croutignac ist …?»
«Mein Schwager. Der Mann meiner Schwester. Besser gesagt, er war es. Meine Schwester starb vor sieben Jahren zusammen mit
ihrer Tochter an den Pocken.»
Marie-Provence sah auf. «Das tut mir leid.»
«Der Tod seiner Familie hat Cédric hart getroffen. Er hat mit seinem Schicksal gehadert und nach Schuldigen gesucht. Dann
lernte er Robespierre kennen. Ich hoffe inständig, dass die Politik Cédrics Leben einen neuen Sinn geben kann.»
Ihre Blicke trafen sich.
«Sie sollten sich in acht vor ihm nehmen, Marie-Provence. Er war heute freundlich zu Ihnen, doch das ist er nie ohne Zweck.
Cédric ist in den letzten Jahren ein verflucht kalter Intrigant geworden.»
Marie-Provence schluckte. Ein geliebtes, ausgezehrtes
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