Die Ballonfahrerin des Königs
Bruder geistesabwesend und starrte dann wieder auf die Nachricht, die er gerade
erhalten hatte. Seine Finger fuhren über die Schrift. Ihre Schrift. Er hatte die Nachricht ein halbes Dutzend Mal gelesen,
um sicherzugehen. Doch leider waren die Worte unmissverständlich. Sie würde nicht kommen. Die Enttäuschung war grausam.
Mars betrat das Büro mit festen Schritten.
André sah ungeduldig auf. Natürlich. Mars ließ sich nicht abwimmeln. Das tat er nie.
Sein Bruder baute sich mit gekreuzten Armen vor André auf. «Was ist los mit dir? Du kannst es doch sonst nicht erwarten, dich
aus dem Staub zu machen und die Fabrik im Stich zu lassen.»
André zerknüllte das Papier. «Hör zu, petit frère, ich habe hier noch etwas zu erledigen, dann komme ich. Je länger du mich
hier aufhältst, desto länger wird es dauern.»
«Was lässt dich zögern? Dass ich den Auftrag besorgt habe? Dass du mir etwas schuldig bist?»
André betrachtete seinen Bruder gereizt. Manchmal schien es ihm, als habe er seinen jüngeren Bruder nie anders erlebt: herausfordernd,
verlangend. Seit Mars greifen konnte, hatte er André das Spielzeug weggenommen, seit er sprechen konnte, ihn provoziert. Woran
lag es wohl, dass der Jüngere sich ständig aufwerten musste? Dabei war er ein gutaussehender Mann, mit stämmiger Figur zwar,
doch gestählt |109| wie er selber durch das Wuchten schwerer Papierrollen, und mit einem Verstand für das Kaufmännische, der den des älteren Bruders
um ein Vielfaches übertraf.
«Ist es, weil du diesmal nicht den Helden spielen kannst, das allem entschwebende Genie? Weil Vater dich dazu verdammt hat,
einmal in deinem Leben Geld zu verdienen, statt es auszugeben?»
Es gelang André, seine Irritation in Zaum zu halten. «Ich arbeite genauso in der Fabrik wie du, und das weißt du. Nicht wenige
der Muster habe ich entworfen, darunter ein paar der bestverkäuflichen.» Er wandte sich zur Tür. «Und jetzt entschuldige mich.»
«Was …?»
«Ich muss nochmal kurz weg. In einer halben Stunde bin ich zurück.» Damit schob er seinen Bruder beiseite und verließ den
Raum.
***
«Mademoiselle Duchesne? Ich dachte, Sie wären in den Tuilerien?»
«Nein. Ich habe es mir anders überlegt.» Marie-Provence vermied es, zu dem Arzt aufzusehen.
«Waren Sie denn nicht mit Monsieur Levallois verabredet?»
«Ich habe ihm eine Nachricht zukommen lassen. Er weiß Bescheid.» Sie drehte dem Arzt den Rücken zu und beugte sich über die
Instrumente, die für die Untersuchung der Schwangeren benötigt wurden. Sie ordnete sie mit peinlicher Genauigkeit auf einem
weißen Linnen an. Nein, dachte sie zum vielleicht hundertsten Mal, ihre Entscheidung war richtig gewesen. Früh am Morgen hatte
sie noch voller Zuversicht das Schloss verlassen, doch dann, in Paris, war sie den unzähligen Menschen begegnet, die allerorts
aus ihren Häusern strömten. Zu Tausenden waren sie unterwegs zur Fête de l’Être Suprême, die Frauen in reinem Weiß, die Männer
mit Eichenzweigen in der Hand, die Kinder Körbe voller |110| Blütenblätter schleppend. Es waren mehr und mehr geworden. Irgendwann begann man, sie argwöhnisch zu beäugen. In ihrem himmelblauen
Kleid, sonst die beste Tarnung, war sie heute so auffällig wie ein Vergissmeinnicht inmitten von Wiesenschaumkraut.
Marie-Provence hatte keine Schwierigkeiten gehabt, sich gegen Madame Mousnier durchzusetzen, sich unter die Ammen zu mischen
oder die Wache im Temple anzusprechen – Berührungsängste kannte sie nicht. Ihr Elternhaus hatte sich in einem einfachen Viertel
befunden, und obwohl Marie-Provence durch die Nähe ihrer Mutter zur Königin viel Zeit in Versailles verbracht hatte, war ihre
Kindheit beeinflusst vom bunten Treiben der Händler, Fuhrleute und Handwerker vor ihren Fenstern. Doch sie fürchtete sich
vor den Menschenmassen, wenn der Einzelne sein Gesicht und seine Individualität verlor und zu einem Teil der namenlosen, blutrünstigen
Kraft wurde, die in den letzten Jahren Schrecken und Grauen über das Land verbreitet hatte.
Nach einem ersten Anflug von Panik war Marie-Provence heute Morgen klargeworden, dass es Wahnsinn gewesen wäre, sich in diese
Volksmassen zu zwängen und zu erwarten, heil wieder herauszukommen. Sie hatte die einzig mögliche Konsequenz gezogen und André
Levallois eine Absage geschickt, sobald sie das sichere Refugium der maison de la couche erreicht hatte. Dabei hatte sie sich
gewundert, wie schwer
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