Die Ballonfahrerin des Königs
aufkommenden Erinnerung. Damals, als sie Hals über Kopf aus ihrem Elternhaus geflohen
war, war die resolute, langjährige Dienerin ihrer Eltern ihr heimlich nachgeeilt und hatte ihr einen Zettel zugesteckt …
«Hier, Mademoiselle, ich habe Ihnen einen Namen und eine Adresse aufgeschrieben. Fahren Sie nach Sartrouville und fragen Sie
dort in der alten Kirche nach Rosanne. Sagen Sie, dass ich Sie schicke, sie wird Ihnen vielleicht helfen können. Rosanne ist
die Tochter meiner Kusine Ernestine. Sie hat ein Versteck gefunden für Ernestine und deren Herrschaften. Wo, weiß ich nicht.
Aber vielleicht ist dort noch Platz für Sie!»
Marie-Provence war außerstande, den Wert dieses Geschenkes zu schätzen. Statt der alten Dienerin zu danken, packte sie Dorettes
Hand. «Wer ist dieser Mann, der jetzt bei uns wohnt?»
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«Croutignac?» Dorette zuckte teils ergeben, teils ratlos die Schultern. «Ich kann nicht viel über ihn sagen. Die meiste Zeit
des Tages verbringt er im Temple – keine Ahnung, was er dort macht. Im Haus wohnt er alleine, von ein paar gelegentlichen
Damenbesuchen abgesehen.» Sie rümpfte die Nase. «Er lässt sie sich aus dem Palais-Égalité kommen.»
«Aber wie kam er zu dem Haus?», bohrte Marie-Provence.
«Croutignac tauchte auf, um das Haus zu durchsuchen, kurz nachdem die Garden Ihre Eltern abgeholt hatten. Als er wegging,
hatte er eine Mappe unterm Arm und grinste bis über beide Ohren. Einen Tag später war er wieder da. Möbel hatte er keine,
aber Berge von Kisten voller Papiere und ein Dokument, das bezeugte, dass dieses Haus enteignet und ihm zugeschrieben worden
war. Die Kisten hat er in Ihr altes Zimmer gesperrt. Seitdem dürfen wir da nicht mehr rein, auch nicht zum Saubermachen.»
Dorette schüttelte den Kopf. «Mögen tut ihn hier keiner. Die meisten, die unter Ihren Eltern gedient haben, sind gegangen.
Nur Marie-Jeanne und ich sind geblieben, aber nicht, weil es uns gefällt, das können Sie mir glauben!»
Erst dann gelang es Marie-Provence, ihren ganzen Mut zusammenzunehmen und mit zittriger Stimme die Frage zu stellen, die ihr
auf der Seele lastete. «Und meine Eltern?»
Dorettes Blick war voller Mitleid. «Ihren Vater haben sie nach Saint-Lazare gebracht. Dort ist er …» Die alte Dienerin biss sich auf die Lippen und bekreuzigte sich. «Ihre Mutter – Ihre Mutter lebt noch.»
«Wo ist sie?»
«In der conciergerie.»
Marie-Provence’ Nacken schmerzte, doch sie rührte sich nicht. Ihr Blick blieb starr auf den Mond gerichtet.
Marie-Provence war sofort zu dem imposanten Justizpalast am quai de l’horloge gerannt. Bei ihrer Ankunft hatten zwei Leiterwagen
mit mannshohen Rädern im offenen Vorhof gewartet. Sie waren bereits halb gefüllt gewesen mit Gefesselten. Es war die erste
Fuhre Gefangener für die Guillotine gewesen, die Marie-Provence erblickt hatte. Die erste von |104| vielen, deren Weg sie im Laufe der nächsten Monate kreuzen sollte. Bis zu der letzten, heute morgen.
Marie-Provence hatte damals von einem der Verurteilten erfahren, dass ihre Mutter tatsächlich noch lebte und seit zwei Tagen
vor Gericht stand. Angèle de Serdaine war eine Freundin der Königin gewesen. Sie hatte zum erlesenen Kreis des Trianon gehört,
des Lustschlosses in den Gärten von Versailles, in dem sich die Österreicherin Marie-Antoinette mit ihren Freunden zurückzog,
wenn ihr die französische Hofetikette allzu lästig wurde. Und dieser Umstand verschaffte Angèle die seltene Ehre eines ausführlichen
Prozesses. Ein Prozess – in den Ohren einer naiven Achtzehnjährigen hatte das nach Gerechtigkeit und Hoffnung geklungen.
Marie-Provence hielt die Augen weit geöffnet. Sie biss die Zähne aufeinander. Sie war stark, war es unzählige Male zuvor gewesen.
Noch nie hatte sie zugelassen, dass der Schmerz ihr Tränen in die Augen trieb.
Die Gefangenentransporte waren die einzige Möglichkeit, Neuigkeiten aus dem Gefängnis zu bekommen. Also mischte Marie-Provence
sich von nun an täglich zwischen die Frauen, die die Treppe des Justizpalastes belagerten, um die Verurteilten zu verhöhnen
und zu beschimpfen. Die Soldaten ließen die Vetteln gewähren. Dafür drückten sie auch meist ein Auge zu, wenn sich ein Angehöriger
zwischen sie schob, auf Nachrichten hoffend oder um Abschied zu nehmen.
«Angèle de Serdaine! Kennt einer von Ihnen Angèle de Serdaine?»
Nicht immer erfuhr Marie-Provence etwas. Doch dann, eines Tages, als
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