Die Ballonfahrerin des Königs
es ihr gefallen war, die paar Zeilen zu schreiben. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich
auf die Verabredung gefreut hatte. Tant pis! Es war gut so, wie es war. Die Idee, dieses Fest zu besuchen, war sowieso Unfug
gewesen. Noch hatte sie nichts im Temple erreicht, noch hatte sie kein Recht, ihre Tage auf Festen zu vergeuden.
«Mademoiselle Duchesne, der Vorfall im Temple hat mir zu denken gegeben.»
Marie-Provence hatte Mühe, sich aus ihrer Melancholie zu reißen, und sah den Arzt mit großen Augen an. «Vorfall? Was meinen
Sie?»
«Der capitaine der Garde hatte Sie um Ihre Papiere gebeten, |111| und Sie waren sehr zögerlich, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Auch im Wagen musste ich mich einer List bedienen, um
die Kontrolle zu umgehen.»
Marie-Provence richtete sich kerzengerade auf. «Ich …»
«Sie sollten in Zukunft Ihren Ausweis als Bürgerin immer zur Hand haben. Ich werde nicht immer an Ihrer Seite sein, um zu
bezeugen, dass Sie sind, wer Sie behaupten zu sein.»
«Nein, natürlich nicht», sagte Marie-Provence tonlos. «Ich war Ihnen sehr dankbar für Ihr Eingreifen.»
«Ich habe Madame Mousnier gefragt, und diese beteuerte, nie einen Beweis Ihrer Identität bekommen zu haben. Offensichtlich
ist dies ein Thema, das bereits zwischen Ihnen zur Sprache gekommen ist.»
Ein kleiner Fleck klopfte an Marie-Provence’ Schläfe. Sie antwortete nicht, hielt aber dem Blick des Arztes stand.
Jomart griff in seinen Rock, zog etwas aus seiner Tasche und streckte es ihr hin. Zögerlich nahm sie es entgegen. «Ich hoffe,
damit werden Sie ähnliche Vorfälle vermeiden können.»
Marie-Provence entfaltete das Blatt, auf dem der blauschwarze Stempelabdruck der commune von Paris prangte. Certificat de
civisme, stand da gedruckt. Darunter waren handschriftlich ausgeführt ihr Name, Marie-Provence Duchesne, ihr Geschlecht sowie
andere Details über ihre Person. Sie starrte den Arzt an.
«Wie Sie sehen, ist Ihr Wohnort als die Rue de Gaillon in Paris angegeben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich meine
eigene Adresse habe eintragen lassen.»
«Darf ich fragen, was Sie als Gegenleistung für dieses Papier erwarten?»
«Ihren vollen Einsatz bei der Arbeit. Ich bin ein Gewohnheitsmensch, wissen Sie. Ich würde es hassen, eine neue Hilfskraft
einarbeiten zu müssen. Und ich glaube zu wissen, dass ich keine finden würde, die Ihnen auch nur annähernd das Wasser reichen
kann.» Er sah sie fest an. «Ich habe übrigens mit meiner Frau darüber gesprochen und ihr erklärt, |112| wie viel mir an Ihren Fähigkeiten liegt. Sie hat mich unterstützt, wie sie es immer tut, und versprochen, ein Zimmer herzurichten,
das im Dachgeschoss unseres Mietshauses liegt und unserer Wohnung zugeteilt ist. Wir haben dort früher das Kindermädchen untergebracht,
doch meine beiden Jungen sind inzwischen groß, und das Zimmer steht leer. Es wäre günstig, wenn Sie in den nächsten Tagen
vorbeikämen, um dort ein paar Habseligkeiten zu hinterlegen. Vielleicht können Sie sich dann ja auch den anderen Mietern des
Hauses zeigen oder mal dort übernachten. Gewiss werden Sie keine Schwierigkeiten haben, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Zeugen, die bei eventuellen Nachfragen der Polizei dieses Papier bestätigen können, sind zweifelsohne von Nutzen.»
Vielleicht hätte Marie-Provence den Ausweis zurückgeben sollen, beteuern, sie brauche ihn nicht – aber er war zu kostbar,
bedeutete eine viel zu große Erleichterung, um ihn abzuweisen. Auch hätte der Arzt eine solche Komödie nicht verdient. Also
faltete sie das Papier sorgfältig zusammen und steckte es ein.
«Danke», sagte sie bewegt.
«Reiner Eigennutz.»
«Eigennutz?» Marie-Provence musste lächeln.
Der Arzt jedoch blieb ernst. «Mademoiselle Duchesne, wir leben in einer Zeit, in der Offenheit jederzeit als Waffe benutzt
werden kann. Deshalb verlange ich keine Erklärungen von Ihnen, und auch ich werde Ihnen meine Beweggründe nicht näher erläutern.
Eine Frage jedoch möchte ich Ihnen stellen. Bitte beantworten Sie sie ohne Rücksicht auf das, was Sie mir vielleicht zu schulden
glauben. Ich bin ein Mensch ohne politische Ambitionen, wissen Sie. Sonst hätte ich meine Stellung als Arzt in der maison
de la couche nach der Revolution nicht behalten können. Mich interessiert alleine mein Beruf – der Schutz und das Wohlergehen
meiner Patienten.»
«Ich weiß, docteur.»
Der Arzt strich sich
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