Die Ballonfahrerin des Königs
Gesicht, ein Gesicht aus der Vergangenheit reckte sich ihr von einem
Karren entgegen.
Du musst dich vor ihm in acht nehmen, Marie-Provence!
Sie wandte ihr Gesicht ab und sah auf die Straße. «Keine Sorge, docteur», sagte sie bewegt. «Ich weiß genug über Cédric Croutignac,
um ihm für alle Zeiten zu misstrauen.»
***
Marie-Provence saß auf einer der langen Bleiplatten, die das Schloss von Maisons bedeckten, und blickte auf die Welt hinab.
Nur das mit Schiefer verkleidete Glockentürmchen, an das sie sich angelehnt hatte, überragte sie.
Der Mond war fast voll. Sein helles Licht tauchte die Bleiterrassen in einen silbrigen Schimmer. Das Geländer, das das Schloss
wie ein eisernes Diadem krönte, umrankte Marie-Provence mit Schnörkeln aus Schatten.
Die Fledermäuse, die ihren Unterschlupf in den Kellern des Schlosses verlassen hatten, durchjagten lautlos den nächtlichen
Himmel. Ein Kauz rief im nahen Wald. Der Wind rauschte in den Pappeln am Ufer des Flusses.
Marie-Provence nahm die kühle Luft tief in sich auf. Das |101| Abendessen war bereits vorbei, die anderen Bewohner des Schlosses hatten sich wie jeden Abend zu einer Partie Pharao zusammengesetzt.
Keiner hatte sie zurückgehalten, als sie sich, Müdigkeit vortäuschend, entschuldigt hatte. Statt sich auf das Lager zu legen,
das sie mit ihrer Tante teilte, hatte sie jedoch erneut die Kleider gewechselt und sich die Perücke von den Haaren gezogen.
Korsetts und steife Kopfbedeckungen passten nicht zu Kletterpartien.
Sie kam gerne hierher. In den ersten Tagen ihrer Ankunft hatte sie das Schloss gründlich durchsucht. Sie hatte mit Spinnweben
im Haar das untere Kellerniveau erkundet, sein kompliziertes Ganggeflecht, seine gewaltigen Weinreservoire und das Abwassersystem.
Sie hatte die Wirtschaftsräume erforscht, die sich auf den Trockengraben öffneten, um direkt beliefert werden zu können, die
dazugehörige Hauptküche mit ihrem riesigen Kamin im Süden, die gemütliche, mit Terrakotta beflieste Nebenküche im Norden,
in der die alte Ernestine ihre Mahlzeiten zubereitete. Sie kannte die zwei repräsentativen Stockwerke in- und auswendig, samt
der geplünderten Kapelle, dem schneeweißen Treppenhaus mit den musizierenden Stuckengeln unter der Kuppel, dem prächtigen
Ballsaal und seiner Empore sowie dem kostbaren, kreisrunden Spiegelkabinett. Sie war durch die vier Etagen der Mansarden gezogen,
hoch, immer höher, hatte aus den verlassenen Zimmern der Dienstboten ein paar alte Matratzen geborgen und sich Beulen an dem
jahrhundertealten Eichengebälk gestoßen.
Ganz zum Schluss war nur noch eine letzte Tür zu öffnen übrig geblieben. Marie-Provence hatte sie gegen den Wind aufgestemmt
– und geblendet nach Luft geschnappt, als sie sich plötzlich im Freien wiedergefunden hatte, in einer schwindelerregenden
Höhe. Sie war nach vorne getorkelt, an die Voluten der Brüstung, und hatte sich von der überwältigenden Aussicht und der brausenden
Luft berauschen lassen. Als Kind hatte sie öfters geträumt, sie könne einem Vogel gleich über Dächer und Bäume gleiten. Hier
oben war dieser Traum zum Greifen nahe.
|102| Seitdem trieb es sie häufig hierher. Es war leichter, die Einsamkeit zu ertragen, wenn man über allem schwebte, leichter,
sich stark und unverletzbar zu fühlen. Die Sorgen und Ängste waren hier weniger erdrückend, Paris lag geschrumpft in der Ferne
und verbarg das Grauen seiner Gassen in himmlischem Dunst, der Mont Valerien buckelte davor. Zu Marie-Provence’ Rechten lag
Versailles, der mächtige Wald von Saint Germain um sie herum, und vor ihr die Dörfer, die sie von ihren Fahrten in die Hauptstadt
kannte, das schöne Courbevoye, das winzige Besons, Houilles, wo der alte König Louis XIV. so gerne zur Fuchsjagd gegangen
war, und schließlich, jenseits der Seine, Sartrouville, in dessen Kirche Rosanne sich Gäste herbeisehnte.
Sie lehnte ihren Kopf gegen die Schieferschuppen hinter ihr. Heute fühlte sie sich mehr als sonst erschöpft vom Tag. Dennoch
wusste sie, dass es keinen Zweck hatte, sich schlafen zu legen. Etwas gärte in ihr, etwas, das ihr keine Ruhe lassen würde.
Mit weitgeöffneten Augen betrachtete sie den Mond. In seinem fahlen Licht machte sie schemenhafte, gespenstische Gestalten
aus. Ihr Herz krampfte sich zusammen, doch sie kämpfte nicht gegen ihre Gefühle an. Zunächst zeichnete sich Dorettes freundlicher
Umriss ab. Marie-Provence lächelte bei der
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